Worte für den Tag – Worte auf den Weg | Freitag, 26. Juni 2009

Ich kannte die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ich kannte ihr Alter: sechsundfünfzig. Eine Nichte hatte mich angerufen. Seltsame Veränderungen seien mit der Tante vorgegangen. Sie sei glücklich verheiratet, lebensfroh, unproblematische Kinder, erfolgreicher Mann.
Und nun das: Die Kranke wolle ihren Mann nicht sehen, ebenso wenig die Kinder und sonstige Verwandte. Man wisse nicht mehr, was tun. Ob ich nicht mal vorbeigehen könne…Ich machte mich auf einen traurigen Besuch gefasst.
Die ich antraf, war ganz anders: Entschlossen, kämpferisch, beinahe fröhlich, sehr lebendig.
„Ja, es ist ein Kampf“, sagte sie, „ja, er ist hart. Die Chancen, dass ich ihn gewinne, sind gering. Darum kann ich Mann und Familie gegenwärtig nicht so gut brauchen. Sie wissen nicht, wie man von solchen Dingen redet, sie tun krampfhaft so, als sei ich auf dem Weg der Besserung, dabei sind sie selber hoffnungslos. Das ist nicht, was mir jetzt hilft.“ Sie wartete nicht, bis ich Worte gefunden hatte, und erzählte: „Mein Leben war wie aus dem Bilderbuch. Immer schön geradeaus, nie irgendeine Schwierigkeit. Bis die Krankheit kam. Ich erschrak gewaltig. Und trotzdem – Sie können mich verrückt erklären – es gab eine Spannung in meinem Leben, das lasse ich mir von niemandem ausreden, auch nicht von Ihnen! Ich bin sechsundfünfzig, ich kämpfe um mein Leben. Ich werde nicht klein beigeben. Ich werde diesem Kampf nicht ausweichen.
Ich fand keine Worte, es war auch nicht nötig. Sie setzte noch eins drauf: „Wissen Sie, was mich am meisten erstaunt? Ihr Gott war für mich immer ein ferner, braver Mann, wir lebten in Frieden nebeneinander her. Es tut mir ja leid, aber wir hatten nicht viel miteinander zu tun. Das ist nun ganz anders. Ich habe Streit mit ihm, einen richtigen schweren Streit. Und er war mir noch nie so nahe wie jetzt.“ Dann fügte sie noch hinzu, ich dürfe wiederkommen.
Auf dem Krankenhausflur ging mir durch den Kopf: Wie leichtfertig wird immer von „sinnlosem Leiden“ gesprochen! Wer kann das beurteilen, ob eine schwere Lebensphase sinnvoll oder sinnlos ist? Sie war nicht stumm geworden angesichts des möglichen Todes; das Sterben war ihr zentrales Lebensthema geworden. Haben Menschen nicht ein Recht darauf, dass wir sie darin unterstützen?