Abendsegen | Sonnabend, 31. August

Bevor in der Bibel von den Völkern erzählt wird, ist von der Erschaffung des Menschen die Rede, wobei die Grundaussage ist: Der Mensch, das sind Mann und Frau. Mann und Frau für sich sind nur ein halber Mensch – eine sehr alte Erfahrung… Vom Menschen wird erzählt, nicht vom ersten Griechen oder Indianer, nicht vom Repräsentanten eines Volkes. Weder erschafft Gottverschiedene Hautfarben, Kulturen, Herren oder Sklaven. – der Mensch wird erschaffen. Das ist so, sagt die jüdische Tradition, dass niemand sagen kann: „Mein Vater war größer als deiner!“

Der biblische Anfang war universal, später erst wollen die Leute ein Reich, ein Volk, eine Sprache, einen Führer und einen Turm bis zum Himmel und erleben eine Katastrophe. Morgen werden sehr unterschiedliche Programme und Menschen gewählt – gemeinsam sollte ihnen die Mit-Menschlichkeit sein.

Unser Vater, du weißt, wie schwierig es in dieser Woche war, den richtigen Weg zu finden, dich zu bezeugen, von dir zu sprechen oder zu schweigen. Schenke uns allen eine ruhige Nacht.

Abendsegen | Freitag, 30. August

Für die jüdische Gemeinde ist es wieder Schabbat geworden – Zeit, der hebräischen Weisheit das Wort zu geben: Rabbi Sussja kommt zum Himmel. Er hat alle Gebote erfüllt. Sein Name ist im Buch Lebens eingetragen. Da fragt ihn Gott nach der Stadt, aus der er kommt.

„Hat sich dort nicht ein schreckliches Blutbad zugetragen?“
„Ja, es war entsetzlich.“
„Hast du dagegen protestiert?“ , fragt Gott.
Sussja antwortet: „Hätte es denn etwas genützt?“
Gott sagt: „ Das weiß ich nicht, aber vielleicht dir.“

Gott sei uns gnädig und segne uns, er lasse sein Angesicht leuchten über uns, dass man auf Erden seinen Weg erkenne, unter allen Völkern sein Heil.

Abendsegen | Donnerstag, 29. August

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gehört zu den höchsten Auszeichnungen, die unser Land vergibt. Lang ist die Liste der Persönlichkeiten, die für ihren geistigen Mut, politische Vorbildlichkeit und humane Courage gewürdigt wurden. Seit 2016 gehört Navid Kermani zu ihnen, ein Autor, der aus muslimischer Tradition kommt. Er wurde gefragt, was für ihn Rettung bedeute, ob er einmal gerettet worden sei. Navid antwortete: 

„ Erst wollte ich nennen Unfälle, die glimpflich ausgingen… Aber dann sprach ich über meine früheste Erinnerung, den für mich ungewohnten Ohrenschmerz, wegen dem ich schrie und meine Mutter holt mich aus Gitterbett und nimmt mich in die Arme, dies Gefühl des umfassenden Trostes, dies Gefühl, mit dem Schmerz nicht mehr allein zu sein…es ist jemand für dich da,.. dieser Umschlag von der bodenlosen Einsamkeit in die Geborgenheit…ja, das war Rettung, wie jeder Mensch sie einmal erlebt hat – erlebt haben sollte – und im Gedächtnis bewahrt“.

Gottes Segen umhülle uns wie ein Mantel, begleite und stärke uns auf allen Wegen.

Quelle: Navid Kermani, Ungläubiges Staunen, Über das Christentum, C.H. Beck, München 2015, 92

Abendsegen | Mittwoch, 28. August

Wahlen nahen und sie lösen beunruhigende Gefühle aus. Es geht dabei um nicht mehr als um die Frage, wie wir miteinander leben wollen – hier bei uns – aber auch in Europa. Wie bezaubernd die humorvolle Klugheit der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska. Ich lese ihr Gedicht Psalm:

Wie undicht sind die Grenzen menschlicher Staaten!
Wie viele Wolken treiben straflos darüber hinweg,
Muss ich hier jeden Vogel erwähnen wie er fliegt oder wie er sich eben setztauf den gesenkten Schlagbaum?
Von ungezählten Insekten nenne ich nur die Ameisen,
die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzpostens auf dessen
Frage: woher, wohin,- sich zu keiner Antwort bequemt.
Schmuggelt da nicht vom anderen Ufer die Weide das hunderttausendste
Blatt über den Fluss?
Kann überhaupt von Ordnung gesprochen werden, wo man nicht einmal die
Sterne ausbreiten kann, damit man weiß, wem welcher leuchtet?

Gott segne und behüte uns, er schenke uns den Blick auf seine grenzenlos schöne Welt!

Quelle: Wislawa Szymborska, Deshalb leben wir, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1980, 59f, Auszüge, s. auch: W.S., Hundert Freuden, Gedichte, Suhrkamp 1996, 49f.

Abendsegen | Dienstag, 27. August

Eine Kollegin hat ein Buch über den „Segen“ geschrieben. Im Vorwort erzählt sie, wie sie abends am Bett ihres Sohnes saß und sagte: „So, nun schlaf gut, mein Schatz, wir sind im Haus und der liebe Gott ist bei dir!“ „Gute Nacht, Mama“. Sie wollte gehen, da hörte sie das Kind: „Ich habe aber trotzdem Angst!“ Der Junge hatte Angst, wohl nicht viel, aber doch zu viel, um einschlafen zu können.

Und die Mutter spürte, dass sie allein dem Kind die Angst nicht nehmen konnte. Da kam ihr ein Gedanke und sie sagte: „Es gibt ein Zeichen, dass Gott wirklich da ist! Soll ich dir ein Segenszeichen auf die Stirn machen?“ Er nickte und die Mutter zeichnete mit dem Daumen ein Zeichen auf die Stirn. „Gott segne dich und behüte dich!“ Der Junge murmelte, er glaube jetzt schlafen zu können. Die Mutter war glücklich und küsste ihn auf den Stirn. Wieder völlig wacher Protest: „Jetzt hast du den Segen weg geküsst. Mach ihn sofort wieder hin!“ Also alles noch einmal, das Zeichen und die Worte…

Gott, der uns schuf und festhält, der uns kennt und liebt, Kleine und Große, wende seinen Segen uns zu und bewahre unser Leben.

Erzählt nach Dorothea Greiner, Segen und Segnen, Kohlhammer 2003 (div. Auflagen)

Abendsegen | Montag, 26. August

In der Schweiz gibt es für gut schmeckende Sachen sehr charmante Namen. Das Mistkratzerli fürs Hühnchen und die Vogelnestli und Pfaffenhuetli findet man in der Konditorei. Meine Tochter arbeitete einige Jahre in Luzern, dort lernte sie etwas Großartiges kennen: Sie fragte vor dem Gang zum Bäcker eine ziemlich erschöpfte Kollegin, ob sie ihr etwas mitbringen könne. „Am liebsten ein Ufstellerli“. Ein „Ufstellerli?“ Was ist das? In der Bäckerei nahm die Verkäuferin ein Brötchen mit Schoggi, also Schokowürfeln aus der Ablage.

Das sollten wir einander auch schenken, ein Wort, das bestärkt, wieder aufstellt, ermuntert, erfreut, ein geistliches „Ufstellerli“, ein beschwingtes „Auf!“ Ich denke sogar, dass die Auferstehung Jesu das tollste „Ufstellerli“ ist. Wäre das nicht morgen ein phantastischer Spaß, einem Mitmenschen ein Ufstellerli mitzubringen?

Unser Vater, segne unsere Nacht, stärke uns, dass wir morgen Mut und Kraft finden, anderen – wir wissen schon, wem – ein Ufstellerli zu schenken

Abendsegen | Sonntag, 18. August

Der alttestamentliche König Salomon lebt im Gedächtnis vieler Menschen als der weise König. Ein salomonisches Urteil fällen heißt, ein weises Urteil fällen. Salomon konnte das nicht gleich zu Beginn seiner Regierung; er war sehr jung und überfordert mit seiner Rolle. Also steigt er für eine Zeit aus dem Alltag aus, unterbricht seine Amtsgeschäfte, zieht sich zurück, bittet Gott , nein, nicht um Macht und Reichtum, sondern um ein hörendes, verständiges Herz.
Die Unterbrechung tut ihm gut, er gewinnt eine Perspektive für sein Leben.
Der Theologe Johann Baptist Metz hat gesagt, Unterbrechung sei die kürzeste Definition von Religion. Religion unterbricht unseren Alltag, Religion greift ein und verändert. Der Sonntag kann eine solche Unterbrechung sein, Gelegenheit, über das Warum und Wozu von allem nachzudenken. Ich weiß, niemand liebt Unterbrechungen – der nächste Sonntag kommt in sieben Tagen…

Unser Vater, segne unser Zur-Ruhe kommen, deine Weisheit berate

Abendsegen | Sonnabend, 17. August

Die zweite Arbeitswoche nach den großen Ferien ist vergangen. Viel hat wieder Fahrt aufgenommen. Jetzt beginnt das intensivste Viertel des Jahres – Projekte, Planungen, Sitzungen, Wahlen – die Wochen werden dicht mit Arbeit angefüllt sein. Die „To-do-Listen“ halten wieder Einzug. Bei manchen sind lange Litaneien notiert. Der Dichter Eugen Roth hat diese Situation treffend auf den Punkt gebracht:
Ein Mensch sagt – und ist stolz darauf:
„Ich geh in meiner Arbeit auf!“
Doch bald darauf – nicht ganz so munter –
geht er in seiner Arbeit unter…

Wir sollten auf diesen To-Do-Listen drei, vier Linien freihalten für gänzlich unnötige Dinge wie spielen, lesen, beten, spazieren gehen, den Bruder anrufen, ein Lied lernen, eine Fischsuppe kochen, Kranke besuchen, Sushi selber rollen, den Kindern zuhören…völlig zwecklose Dinge also. Sie werden unser Leben in ein neues Licht rücken!

Unser Vater, deinen Segen für eine ruhige Nacht erbitten wir, deine Weisheit berate uns.

Abendsegen | Freitag, 16. August

Es ist Freitag-Abend, die jüdischen Gemeinden feiern den Schabbat. Ich lese das biblische Gebet zur Nacht, Psalm 121:

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen,
woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt von Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht.

Der Herr behütet dich;
Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand;
dass dich des Tages die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.
Der Herr behüte dich vor allem Übel.
Er behüte deine Seele.
Der Herr behüte deinen Eingang und Ausgang
von nun an bis Ewigkeit.

Abendsegen | Donnerstag, 15. August

Auf der großen und schönen Kunstmesse in Basel kam es im Juni zu einem fürchterlichen Zwischenfall: Die Süddeutsche Zeitung berichtet: „Ein kleines Mädchen, drei Jahre alt, war von einer großen Fliegen-Plastik derartig angerührt, dass sie das vermeintliche Tier, dessen charakteristischen Umrisse ihm vertraut waren, ihrerseits anrührte und zu Fall brachte…der Kunstflügel der Kunstfliege…zerbrach umgehend…“, so weit die Zeitung. Sie berichtet vom fürchterlichen Bohei und Riesentheater der Aussteller, die „das unberührte Kunstwerk von davor“ dramatisch beklagten, aber auch vom tiefen Beschämtsein des Kindes. Sie verweist auf eine Welt, in der “Antatschen, Wischen, Klicken, Tippen und Tapsen“ gang und gäbe ist. Wer drückt nicht im Bio-Markt auf diese Nektarine und jenen Pfirsich? Ein kleines Kind wollte die schöne filigrane Fliege berühren, begreifen, erfassen, spüren. Dass uns, den viel Älteren, diese Bewegung, diese Sehnsucht nie verloren gehen möge! Und wenn auch nur in Gedanken…

Gott, bleibe bei uns mit deinem Segen, schütze unsere Nacht und gib uns für jede Sorge eine Aussicht.

Quelle: SZ, Streiflicht vom 18. Juni 2019, S.1