Abendsegen | Mittwoch,  19. Oktober 2022

Bevor ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste ich noch einmal zum Kardiologen. Er sollte ein EKG erstellen und mein Herz mit dem Ultraschall untersuchen. Er wurde mir von verschiedenen Pflegeschwestern mit einem liebevollen Lächeln empfohlen, er sei ein älterer „Doktor aus Indien“. Ich war sehr gespannt, als er sich neben mich setzte und mit seiner Hand mein Handgelenk sehr kräftig umfasste, um den Puls zu fühlen. Zuerst war leicht enttäuscht – was sollte das mit dem Puls zählen, wo doch das EKG gleich drankäme. Dann schämte ich mich: Durch die feste Berührung und die nahe Zuwendung und das aufmerksame Zählen waren wir uns ja auf eine wunderbare Weise viel näher näher gekommen als durch hundert Blicke auf die Computerbilder.
Ich habe gar nicht mehr gefragt, was dabei herausgekommen ist, weil die feste, nahe und dichte Berührung mich mehr beruhigte als alle Ergebnisse. Der „Doktor aus Indien“, hatten die Schwestern gesagt – und ich hatte verstanden, was ein Kontakt ist…

Guter Gott, schenke uns einen beruhigenden Schlaf und morgen berühre uns mit deiner Kraft.

Abendsegen | Dienstag, 18. Oktober 2022

Es kommen die Tage, an denen wir morgens oder abends vor das Haus treten, die Luft einatmen, zum Himmel schauen und sagen: Es wird Herbst…Ein anderer Wind kommt auf nach diesem heißen Sommer. Bertolt Brecht schreibt: „Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind die Straße lang trieb, und ich dachte: Schwierig den künftigen Weg des Blattes auszurechnen…“
Das kann uns beim Einschlafen durch den Kopf gehen: den künftigen Weg des Blattes auszurechnen, das künftige Weitergehen unseres Lebens, unserer Arbeit, der Menschen, groß und klein mit uns…
Ich habe einmal in Israel von Beduinen gehört, die Wüste sei schön, weil sie irgendwo eine Quelle beherberge – wo, weiß niemand; nur, wenn es still ist, kann man sie hören. Seltsam, dass sich die Quellen des Lebens oft verstecken. Wie schön wäre es, ohne Angst dem Herbst und dem Winter zu begegnen wie einer im Halbdunkel versteckten Quelle. Doch gleichen unsere Gedanken mehr den Drachen, die in der Herbstluft von den Winden hin- und her gerissen werden, in die Höhe jagen und in Schwingen sinken, mag sein, in den Schlaf.

Wir bitten um deinen Segen, Gott. Lass uns alles zum Segen werden, den Mond über uns, die Erde unter uns, den Herbst vor uns, das Band der Gemeinschaft zwischen uns und die Ruhe der Nacht!

Abendsegen | Montag, 17. Oktober 2022

Der erste Tag der Arbeitswoche kommt an sein Ende. Wir sind Menschen begegnet, den leuten im Haus, haben endlich mal wieder mit der Freundin telefoniert und herumgehört, wie es hier und da mit Corona steht und dem Leben so allgemein. Es könnte sein, dass auch wir zu dem Schluss kommen, den die Dichterin Marie-Luise Kaschnitz zieht in ihrem Gedicht „Ziemlich viel Mut“.
Sie schreibt:
„Ich finde doch, dass ziemlich viel Mut in der Welt ist…wenn man bedenkt, dass es gar niemand gibt, der nicht seine Sorgen hätte, zumindest diese: Kind, was wird dir geschehen?
Und wir wissen doch alle, wie sehr misstrauen dem Dach über unserem Kopf und der Erde unter unseren Füßen…Und doch habe ich heut gesehen, wie einer die Buche pflanzte, den dürren Stecken…Den ganzen Tag habe ich Lastwagen fahren sehen voll Bretter und Schwellen, voll Balken und roter Ziegel. Ich sah mein eigenes Gesicht im Spiegel, als ich fortging, dir zu begegnen. Wie war es voll Freude.“

Unser Vater, segne unseren Schlaf mit der Gewissheit, dass auch morgen uns der Mut für einen neuen Tag stärkt und anfangen lässt.
Quelle: Marie-Luise Kaschnitz, Ziemlich viel Mut in der Welt, Gedichte und Geschichten,, Insel Verlag, Frankfurt a. Main 2002, 158

Abendsegen | Sonntag, 9. Oktober 2022

Einer der liebenswürdigsten und klügsten Menschen der englischen Geschichte ist Thomas Morus. Der Zeitgenosse Luthers widersetzte sich der staatlichen Macht über die Kirche, schrieb eine kühne Alternative zum Staat: „Utopia“ und nebenbei auch ein „Gebet um Humor“.
Schenke mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen. Schenke mir Gesundheir des Leibes mit dem nötigen Sinn dafür, ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Herr, damit sie im Anblick der Sünde nicht erschrecke, sondern das Mittel finde, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele, der die Langeweile fremd ist, Lasse nicht zu, dass ich mir allzu viel Sorgen mache um dieses sich breit machende Etwas, das sich „Ich“ nennt.
Herr, schenke mir Sinn für Humor. Gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen, damit ich ein wenig Glück kenne im Leben, und anderen davon mitteile. Amen.

Die Menschenfreundlichkeit Gottes begleite uns durch die Nacht und schenke uns morgen den guten Beginn einer neuen Woche.
Quelle: B. Becker, H. Möhler, Abendfibel müder Seelen, Luther Verlag, 2019, 24f. (gekürzt)

Abendsegen | Sonnabend, 8. Oktober 2022

Die Woche ist zu Ende gegangen. Vieles lief ganz normal, man könnte sagen, wie selbstverständlich. Aber in einer sogenannten „ruhigen Minute“ geht einem doch durch den Kopf, ob denn das alles selbstverständlich ist? Es ist doch nicht selbstverständlich, dass ich heute morgen aufgewacht bin. Nichts ist selbstverständlich: Dass der Arm am Körper,
das Brot auf dem Tisch, die Zeitung im Kasten und das Geschenk am Geburtstag!
Selbstverständlich ? Meine Brille, die Bäume, die Demokratie, meine Geschwister, keine Folter, kein Hocken im Keller beim Raketenalarm – nichts versteht sich von selbst…
Behütet sein, keine Angst haben brauchen, auf dem Wochenmarkt grüne Heringe kaufen, das Meer, der Wald, die Therapeutin für die Füße, meine Freiheit, an die Ostsee zu fahren – alles selbstverständlich? Ich sage mal: So viel Gnade, so viel Segen, die mir aus irgendwelchen himmlischen Fenstern zugefallen sind– zugestanden ist mir keiner. Und die Erfahrung, es kommen neue Tage – zum Danken!

Der Schöpfer im Himmel sei uns gnädig und einen wohltuenden Schlaf schenke er uns, selbstverständlich ist er nicht…

Abendsegen | Freitag, 7. Oktober 2022

Freitagabend ist Schabbatabend und zur jüdischen Tradition gehört es, vor dem Anbruch der Nacht den 91. Psalm zu beten. In der christlichen Tradition wird er bei Taufen und Trauungen gesprochen. Er ist der Psalm der Bewahrung und des Schutzes. Ich lese Verse aus Psalm 91 in der Übersetzung meines Kollegen und Freundes Lorenz Wilkens:

„Welchen der Höchste schützt, der ruht in Herrschers Schatten
und spricht zu ihm: Herr, meine Zuflucht, meine Burg, mein Gott, dem ich vertraze.
Denn er wird dich retten vor der Schlinge des Jägers, vor Pest und Tod.
Mit seinen Flügeln deckt er dich, du findest Zuflucht dort, seine Treue ist dein Schild.
Fürchte nicht den Schrecken der Nacht, am Tage nicht den Pfeil,
die Pest nicht, die des Nachts einher schleicht, die Seuche nicht,
die mittags dreinschlägt…….Dich wird kein Übel treffen, dein Zelt kein Unheil je erreichen.
Denn er gebietet seinen Engeln dich zu behüten auf allen deinen Wegen
mit ihren Händen dich zu tragen, damit dein Fuß an keinen Stein stößt…“

Abendsegen | Donnerstag, 6. Oktober 2022

„Gute Nacht!“ – Man braucht viel Vertrauen, um abends zur Ruhe zu kommen und einzuschlafen. Die meisten Menschen haben dafür ihr persönliches Ritual entwickelt. Ein bekömmliches Essen. Die Nachrichten um 22.h. Eine verschlossene Tür. Manche einen Spruch von Wilhelm Busch: „ Wer Sorgen hat, hat auch Likör“.

Es gibt Nächte, in denen das alles nichts hilft. Sorgen jeder Art kommen ungerufen, menschliches Beten hat seinen Ursprung in der Bitte um Schutz vor und in der Nacht. Im kleinen Schlaf hat der große Schrecken seine Macht über uns verloren.

Frau Kopecka in Bert Brechts Stück vom „Schweyk“ singt: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“
Ich möchte mir vorstellen, dass Gott all die glücklichen und unglücklichen, gesunden und kranken, jungen und alten, neugeborenen und sterbenden Menschen in der Hand hält und dass ihm nicht einer fehlet…

Unser Vater in den Himmeln, sei um uns herum und segne unsere Nacht!

Abendsegen | Mittwoch, 5. Oktober 2022

Die Spanne zwischen dem 1. September und dem 4. Oktober wird „Schöpfungszeit“ genannt: Katholiken feiern am 1. September den Tag der Bewahrung der Schöpfung, Evangelische das Erntedankfest, der 4. Oktober ist internationaler Welttiertag und Gedenktag des Heiligen Franz,. Schweizer Katholiken stellten diese „Schöpfungszeit“ unter den Slogan „Himmelsduft und Höllengestank“. Meine Luzerner Kollegin Jacqueline Keune hat ein Gebet dazu geschrieben:

„Du hast uns, Gott, einen Raum zum Leben geschaffen, der so viel Wunderbares zu sehen, zu hören, zu schmecken und zu riechen gibt. Die Haut der Säuglinge, die Rosen am Abend, die Blüten der Sommerlinden…die salzige Luft über dem Meer, die Schalen der Orangen im Kachelofen. Lass uns selber ein Wohlgeruch sein, den Geruch Jesu auf unserer Haut tragen, den Geruch der Gerechtigkeit und der Geschwisterlichkeit, und uns nie mit dem arrangieren, was zum Himmel stinkt.“

Gott, schenke uns als deinen Geschöpfen einen stärkenden Schlaf in einem gut durchlüfteten Raum, dass wir morgen wieder mit der Nase voran in unseren .Tag gehen können!

Quelle: Die Radiopredigten SRF 2 Kultur, Vreni Amman, Schöpfungszeit, 3. September 2017, S.4

Abendsegen | Dienstag, 4. Oktober 2022

Der 4. Oktober ist der Gedenktag des Heiligen Franz von Assisi. Er lebte von 1181 bis 1226, er hat die gesamte Welt, ihre Menschen, Tiere, Pflanzen und alle Elemente, beschenkt mit dem Bild eines lebensgerechten Miteinanders. Man sagte von ihm, er sei getreu im Anvertrauten gewesen und—vorsichtig im Rat geben! Zwischen ihm und seiner Freundin, der Heiligen Klara, nahm  Gestalt an, was wir zärtliche Zuneigung nennen, die schönste Bewegung des Lebens. 

Er war ein befreiender Mensch – nichts braucht unsere Gegenwart dringender und nötiger als befreiende Menschen. Dem Evangelium der Macht stellte er die Macht des Evangeliums der Zärtlichkeit entgegen. Zwei Worte aus seinem großen „Sonnengesang“:

„Gelobt seist du, mein Herr, für unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt, und vielfältige Früchte hervorbringt mit bunten Blumen und Kräutern.

Gelobt seist du, mein Herr, für Bruder Feuer, durch den du die Nacht erleuchtest, und schön ist er und kraftvoll und stark.“

Unser Vater, unser Schöpfer, stärke unseren Schlaf, lass uns gekräftigt erwachen und mache uns zu einem Werkzeug deines Friedens!

Abendsegen | Montag, 3. Oktober 2022

Der erste Tag der Arbeitswoche kommt an sein Ende – Gelegenheit zur kurzen Bilanz oder zum dankbaren Nachdenken – erst recht heute, wo dieser Tag für die meisten ein freier Tag war, ein Feiertag. Wie hört sich das bei dem Dichter Hans Magnus Enzensberger an?

„Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgene Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Vielen Dank…für die Erdbeeren auf dem Teller
sowie für den Schlaf, für den Schlaf ganz besonders,
und damit ich es nicht vergesse, für den Anfang
und das Ende und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.“

Unser Vater in den Himmeln, lass uns beim Einschlafen noch ein paar Zeilen hinzufüge
und segne Enzensbergers und unseren Schlaf. Danke für ein Glas Wasser in der Nacht, es
muss kein Bordeaux sein…

Quelle: H.M. Enzensberger,
Titel: Empfänger unbekannt,
In Kiosk, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2018 (gekürzt)