von Rolf Lüpke
Unter dem Titel „Zeit für Religionsunterricht in der Berliner Schule“ habe ich im Jahr 1993 „vier Diskussionsbeiträge auf dem Weg zu einem Wahlpflichtmodell Religionsunterricht-Ethik/Philosophie“ veröffentlicht. Sie waren zu Beginn der Debatte um eine Fortentwicklung des so genannten Berliner Modells für den Religionsunterricht entstanden.
Ich knüpfe bewusst an diesen Titel an, wenn hier Überlegungen und Impulse notiert werden, die in Teilen bereits bei verschiedenen Gelegenheiten in den letzten Jahren (u. a. bei mehreren Kreissynoden und bei Treffen von Schulleitungen) vorgetragen oder veröffentlicht worden sind. Auch wenn es bisher nicht gelungen ist, die schulische Stellung des Religionsunterrichts in Berlin gesetzlich neu zu bestimmen, ist die Debatte darüber intensiver geworden. Der Gedanke, dass Religionsunterricht in der Berliner Schule einer anderen Position bedarf, um zu leisten, was er als erzieherisches und unterrichtliches Potenzial in sich birgt, überzeugt immer mehr.
Das Argument, das so genannte Berliner Modell habe sich bewährt und sei auch für die Zukunft angemessen, ist seltener zu hören. Denn zu deutlich zeigt sich im Blick auf die Vielfalt religiöser Gemeinschaften die Unangemessenheit der alten schulgesetzlichen Bestimmungen – auch nach der Neufassung des Schulgesetzes im Januar 2004. Aber manche fragen angesichts dieser Einschätzung auch, ob Religionsunterricht in der Schule nicht durch anderen Unterricht ersetzt werden sollte. Ist also die Zeit des Religionsunterrichts vorbei oder ist noch immer: Zeit für Religionsunterricht?
Konfessioneller Religionsunterricht – unzeitgemäß?
Um Sinn und Stellung des Religionsunterrichts in der Schule wird nicht nur in Berlin und Brandenburg – mal intensiver, mal verhaltener – gestritten. Lange Zeit gehörte konfessioneller Religionsunterricht in den westlichen Ländern der Bundesrepublik unumstritten zum Kanon der Unterrichtsfächer, bis zum Abitur. Er war in den 70er Jahren durch eine religionspädagogische Neubestimmung gestärkt und in seiner Akzeptanz erhöht worden. Dazu hatte auch beigetragen, dass neben Religionsunterricht ein Ersatz- oder Alternativfach (Ethik, Werte und Normen, Philosophie o. ä.) eingeführt wurde.
Die nachlassende Kirchlichkeit, die religionsdemographische Entwicklung in Folge der Zuwanderung und das Nachwirken eines Wirklichkeitsverständnisses, das durch einen postulierten Atheismus geprägt ist, haben seitdem überall neue Herausforderungen geschaffen. Solche Faktoren treffen in vielen großstädtischen Regionen zusammen, Berlin ist ein Paradigma dafür. Wie kann Religionsunterricht für Angehörige anderer Religionen gleichberechtigt in den Schulen eingerichtet werden? Wie wird die weitere Auffächerung des Unterrichts vieler Religionsgemeinschaften organisatorisch bewältigt? Welchen Unterricht sollen jene besuchen, die ohne religiöse Heimat aufgewachsen sind oder sich ausdrücklich als konfessionslos verstehen? Schließlich: Ist es überhaupt Aufgabe der öffentlichen Schule, Kinder und Jugendliche in einer Konfession oder Religion zu bilden?
In Anbetracht dieser Situation halten es viele gerade in Berlin für ein ausreichendes Konzept, dass die Schule sich darauf beschränkt, Kenntnisse über Gegenwart und Geschichte der Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen zu vermitteln und den Meinungsaustausch über religiöse Einstellungen der Schülerinnen und Schüler untereinander zu fördern. Bejaht wird darum die Anreicherung mehrerer geeigneter Fächer – Geschichte/Sozialkunde, Deutsch, Erdkunde, Fremdsprachen – durch religionskundliche Anteile oder die Einrichtung eines neuen Pflichtfaches, das solche religionskundlichen Elemente bündelt. Zugleich wird Religionsunterricht als Fach, das von der Kirche oder anderen Religionsgemeinschaften verantwortet wird, in Frage gestellt. Man befürwortet neutrale Religionswissenschaft und -geschichte und lehnt Religionsunterricht wegen seiner kirchlichen Bindung ab. Wo so gedacht wird, gilt Religionsunterricht im Auftrag der Kirche als unzeitgemäß; allenfalls genießt er so etwas wie Artenschutz. Häufig wird zusätzlich der Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche bemüht, um die Kirchen (und andere Religionsgemeinschaften) in Gestalt eines Religionsunterrichts, der nach ihren Grundsätzen erteilt wird, aus dem schulischen Bildungsauftrag herauszuhalten.
Die Evangelische Kirche bemüht sich in Berlin und Brandenburg um eine rechtliche und konzeptionelle Neuregelung, die mit dem Leitwort „Fächergruppe“ umschrieben wird. In der Fächergruppe sollen mehrere eigenständige Unterrichtsfächer religiöser, philosophisch-ethischer und weltanschaulicher Bildung einander zugeordnet werden. Die Eigenständigkeit verschiedener Fächer entspricht der Eigenart von Religion und der Pluralität religiöser Gemeinschaften in der Stadt. Denn ein allgemeiner Religions- oder Weltanschauungsunterricht lässt sich so wenig definieren, wie es die Religion oder die Weltanschauung allgemein gibt. In der Fächergruppe ist der Unterricht, der vom Staat allein gestaltet wird – Ethik/Philosophie (oder neuerdings auch in Berlin: Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) – mehrfach ausbalanciert: erstens weil an seiner Stelle auch konfessioneller Religionsunterricht gewählt werden kann, zweitens weil er durch die Kooperation zum Diskurs genötigt wird und drittens weil er und die anderen wählbaren Fächer sich über die Schuljahre hinweg ergänzen und zusammen den Schülerinnen und Schüler einen mehrstimmigen Kanon anbieten. Nur in einer Fächergruppe, wo Ethik/Philosophie nicht einziges verpflichtendes Fach bleibt, stehen seine Gegenstände und Intentionen nicht absolut und bergen nicht die Gefahr, dass Überzeugungen und Haltungen durch staatliches Handeln einseitig bestimmt werden.
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