Abendsegen | Sonntag, 30. August

Carolin Emcke, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, eine der klügsten Beobachterinnen des Landes, besuchte ein Konzert des russsischen Pianisten Grigorij Sokolov in der Berliner Philharmonie. Sie schreibt zu Sokolov : “…sobald er sich an den Flügel setzte, wurde es still. Ganz still. Kein Husten, kein Rascheln…Was so berührte an diesem Abend…war Sokolovs konzentrierte Versunkenheit.. dann fiel mir auf, wie selten das geworden ist: die gemeinsame Konzentration auf jemand anderen. Das stille Zuhören. Ohne Unterbrechung oder Ablenkung. Gut zweieinhalb Stunden saßen da 2000 Menschen und hörten zu. „Zuhören ist Hören in Verbindung mit Denken und Konzentration‘, sagt Daniel Barenboim, ‚“die meisten Menschen machen keinen Unterschied zwischen Hören und Zuhören.‘
Zuhören verlangt ein Sich-Einlassen auf das, was zu hören ist, was gespielt oder gesagt wird, es verlangt das Gehörte gedanklich mit nachzuvollziehen. Erst durch das Zuhören tritt das Eigene für einen Augenblick zurück und öffnet sich für eine… eine neue Welt.“

Danke an Carolin Emcke, was sie da „wahr genommen“ hat, ist so biblisch wie kaum anderes.
Um nichts anderes geht es uns mit diesen „Abendsegen“ und ihrem Zuhören…

Unser Vater, eine Woche mit vielen Gelegenheiten zum Zuhören kommt uns entgegen. Stärke unseren Schlaf, dass wir ausgeruht und aufmerksam sie wahrnehmen.

Quelle: Carolin Emcke, Zuhören, Kolumne, 29. Juli 2016, Süddeutsche.de Politik (Auszüge)
http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/kolumne -zuhoeren-1.3100330

Abendsegen | Sonnabend, 29. August

„Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ – das ist ein starkes Wort, ein Versprechen, eine Verheißung Gottes an Abraham – ein Jahrtausende altes Wort. Deshalb direkt gefragt: Segnen wir Menschen, die wir gern haben? Erinnern wir uns an einen speziellen Segen, den wir empfangen haben? Ist es nicht eher so, dass wir in der Kirche im Gegensatz zu Judentum und Islam den Segen als alltägliche Handlung ganz verlernt und vergessen haben? Ein Segen ist ja mehr als der wie immer getönte Satz „Meinen Segen hast du“. Hinzu kommt, dass wieder mehr verflucht als gesegnet wird im offenen wie verdeckten Rassismus. Es wäre Zeit für uns, das Segnen zu lernen, das Segnen Gottes und das Segnen unserer Mitmenschen, allen voran das Segnen der schwarzen Schafe, der schrägen Vögel, der bunten Hunde, der Habenichtse und der Kranken in Not, der Menschen auf der Flucht und der Kinder im Spiel, der Verliebten und der Einsamen am Abend.

Unser Vater, behüte und bewahre uns, segne uns alle, dass neu werde die Erde, ganz neu, und der Schlaf uns alle stärke.

Abendsegen | Freitag, 28. August

Rabbi Jehuda wurde einmal gefragt, wie es denn käme, dass er so gut schlafen könne. „Wie das zugeht, dass ich sogleich einschlafe? Es geht so, dass ich mich hergebe. Wie in mütterliche Arme gebe ich mich her. All mein Widerstand fällt im Nu ab, und ich lasse mich los.“
Die Antwort Rabbi Jehudas. Die Antwort der Bibel am Schabbatabend lesen wir im Psalm 121:

Ich hebe meine Augen auf zu den bergen
Woher kommt mir Hilfe?
Meine Hilfe kommt von Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht,
der Herr behütet dich.
Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
dass dich des Tages die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.
Der Herr behüte dich vor allem Übel,
er behüte deine Seele.
Der Herr behüte
deinen Ausgang und Eingang
von nun bis Ewigkeit!

Abendsegen | Donnerstag, 27. August

Wislawa Szymborska ist in der Weltliteratur die Stimme Polens, Nobelpreisträgerin mit weiter Anerkennung, schmalen Gedichten und bewegender Kenntnis biblischer Frauen. Wir hören zu:
„Angeblich sah ich zurück aus Neugier; außer der Neugier hätt ich auch andere Gründe haben können…
Ich spürte das Alter in mir.. Die Entfernung. Die Schläfrigkeit. Ich sah zurück aus Angst, wohin die Schritte lenken. Ich sah aus Verlassenheit zurück.“
Wer ist diese namenlose Frau? Sie ist auf der Flucht vor dem Entsetzlichen, das ihrer Heimatstadt droht. Sie blickt hinter sich und erstarrt vor Schrecken. Die Bibel erzählt, sie wurde zur Salzsäule. Warum dreht sich die Frau um ? Szymborska spricht vom Alter, der Leere des Wanderns, der Angst, wohin die Schritte führen, von Verlusten. Mit Verlusten leben und doch nicht rückwärtsgewandt? Erinnerung kann etwas anderes sein als gebannte Rückschau. Erinnerung kann auch Verarbeitung sein, kann auch Kraft und Hoffnung geben. Es geht so viele an! Helfen wir einander zu Neuanfängen, wo wir können!

Unser Vater, Erinnerungen kommen uns nahe! Hilf uns, sie wahrzunehmen, zu verarbeiten und
den stärkenden Schlaf zu finden: Nimm dich unser gnädig an, wenn die Nacht kommt.

Quelle: Wislawa Szymborska, Deshalb leben wir, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1980, 57

Abendsegen | Mittwoch, 26. August

Ein wichtiger Text in der Bibel ist die Bergpredigt. In politisch erregten Zeiten hört man: „Mit der Bergpredigt kann man nicht regieren“, so Helmut Schmidt. „Nur mit der Bergpredigt lebt ein Christ politisch“, so Erhard Eppler. Die Bergpredigt beginnt Seligpreisungen, die heute so lauten könnten.
„Selig sind, die intelligent genug sind, um sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, denn sie werden
von ihrer Umgebung geschätzt werden.
Selig seid ihr, wenn ihr fähig seid, das Verhalten der anderen mit Wohlwollen zu interpretieren,
auch wenn der Anschein dagegen spricht, denn ihr werdet für naiv gehalten, aber das ist der Preis für die Liebe.
Selig sind die, die einen Berg von einem Maulwurfshügel unterscheiden können, denn es wird ihnene eine Menge Ärger erspart bleiben.
Selig seid ihr, die ihr schweigen und lächeln könnt, auch wenn man euch das Wort abschneidet
oder auf die Zehen tritt, denn das Evangelium fängt an, euer Herz zu durchdringen.“

Unser Vater, schenke uns einen seligen Schlaf, auch wenn heute Nacht wieder schrecklicher Lärm auf der Straße ist und die Autos fürchterliche Rasereien veranstalten.

Quelle: Joseph Foillet, Seligkeiten für die, die ein bisschen Humor haben und weise werden wollen, in: Bernd Becker, Hans Möhler, Abendfibel für müde Seelen, Luther Verlag, Bielefeld 2019, 58 (Auszüge)

Abendsegen | Dienstag, 25. August

Dorothee Sölle, eine Predigerin mit der Leidenschaft einer Prophetin, lernte von den Ereignissen in der weltweiten Ökumene, aber auch von ihrer Enkeltochter. Sie erzählte: „Dieses kleine Mädchen, dreieinhalb Jahre alt, holte alle meine Tassen aus dem Schrank und baute sich – unter meinen besorgten Augen – ein Cafe auf. Sie schenkte imaginären Kaffee an imaginäre Gäste aus, Nach einer Weile sagte ihre Mutter: „Jetzt musst du aber aufräumen, wir wollen zu Abend essen!“ Das Kind antwortete nachdenklich: „Mama, du, du denkst immer nur in  „in echt“!“ . Dorothee Sölle fügte hinzu: „Ich habe die vergangenen 50 Jahre sehr oft nicht „in echt“ gedacht, viel in Träumen und Hoffen, dass es außer „in echt“ noch etwas anderes geben müsse. Bedeutet denn Erwachsenwerden mehr „in echt“ zu leben, blinder und ein bisschen dümmer?“ So weit Dorothee Sölle. Ich würde einwerfen: „Was ist mit der Hummel?“

Die Hummel hat 0,7 cm Flügelfläche und wiegt 1,2 Gramm. Nach allen Gesetzen der Wissenschaft ist es unmöglich, damit zu fliegen. Die Hummel weiß das nicht und fliegt einfach!“

Unser Vater, wir bitten dich: Lass den Schlaf in echt kommen und die Träume aus der Kindheit

dazu!

Abendsegen | Montag, 24. August

„Erstaunlich, dass man täglich andere erheitern kann, nicht nur die nahen, auch ganz
unbekannte Menschen, deren Müdesein sich mühelos durchbrechen lässt durch etwas
Unerwartetes, eine unberechenbare Freundlichkeit, ein ungefragtes Geschenk, eine nebensächliche Gabe, eine überraschende Anteilnahme. In der Manteltasche sollte man für den Geliebten stets einen Bleistift von Koh-i-Noor tragen, schreibt Milena Jesenskaja, die Freundin des Dichters Franz Kafka. Für griesgrämige Schalterbeamte lohnt es, einen Marienkäfer aus Schokolade einzustecken oder für eine bleiche Verkäuferin oder für einen verregneten Verkehrspolizisten. Komplimente gehören auch zu den Geschenken. Und wenn man es bedenkt, ist erstaunlich, wenn man es nicht tut: anderen den Tag angenehmer zu machen.“
So rät es uns die Berliner Schriftstellerin Katharina Hacker, morgen anderen den Tag angenehmer zu machen! Danke!

Unser Vater, lass uns in gutem Nachdenken einschlafen, wem wir wohl morgen den Tag angenehmer machen könnten…eine fällt mir schon ein…

Quelle. Katharina Hacker, Darf ich dir das Sie anbieten?, Berenberg Verlag Berlin 2019

Abendsegen | Sonntag, 16. August

Zum Wochenbeginn eine Geschichte aus dem 18. Jahrhundert von Johann Peter Hebel, Pfarrer, Erzähler und Erzieher, verehrt von Goethe bis Brecht und Bloch. “Dankbarkeit“ nennt Hebel
seine Geschichte:
„In der See-Schlacht von Trafalgar (1805), während die Kugeln sausten und die Mastbäume krachten, fand ein Matrose noch Zeit zu kratzen, wo es ihn biss, nämlich auf dem Kopf. Er streifte mit Daumen und Zeigefinger an einem Haar herab und ließ ein armes Tierlein auf den Boden fallen. Aber indem er sich bückte, um dem Tierlein den Garaus zu machen, flog eine feindliche Kanonenkugel über den Rücken hinweg, paff, in das benachbarte Schiff. Da ergreift den Matrosen ein dankbares Gefühl und überzeugt, dass er von dieser Kugel zerschmettert worden wäre, wenn er sich nicht nach dem Tierlein gebückt hätte. hob er es wieder auf und setzte es wieder auf den Kopf. „Weil du mir das Leben gerettet hast, aber lass dich nicht ein zweitesmal erwischen, dann kenne ich dich nimmer!“

Unser Vater in den Himmeln, segne unseren Schlaf. Hilf uns, in der neuen Woche Situationen der Dankbarkeit wahrzunehmen und sie auszusprechen.

Quelle: Johann Peter Hebel, Gesammelte Werke, Bd. 3, Wallstein Verlag Göttingen 2019, 391

Abendsegen | Sonnabend, 15. August

Einer der großen in der Geschichte Europas war Thomas Morus, ein englischer Staatsmann,
Reformer, Diplomat. Ach, hätten die heutigen nur einen Atemzug von ihm. Er entwarf das Bild einer neuen, anderen Gesellschaft und nannte sie „Utopia“, was so etwas wie „Anderer Ort“ heißt, nicht wie dieser, denn wir kennen. Er hat ein „Gebet um Humor“ geschrieben:
„Schenke mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen! Schenke mir Gesundheit des Leibes mit dem Sinn dafür, ihn möglichst gut zu erhalten. Schenke mir eine Seele, der die Langeweile fremd ist, lasse nicht zu, dass ich mir allzuviel Sorgen mache um dieses sich breitmachende Etwas, das sich „Ich“ nennt. Schenke mir Sinn für Humor, gib mir die Gnade einen Scherz zu verstehen, damit ich ein wenig Glück kenne im Leben und anderen davon mitteile.Amen.“

Unser Vater, lass uns nachdenken beim Schlaffinden über diese Worte und gib uns die Gnade, am morgigen Tag einen Scherz zu verstehen, noch besser, einen Scherz für andere zu machen.

Quelle: Thomas Morus, Gebet um Humor (Auszüge), in: Bernd Becker, Hans Möhler, Abendfibel müder Seelen, Luther Verlag Bielefeld, 24

Abendsegen | Freitag, 14. August

Es ist Freitagabend geworden; in den Synagogen gehen die Schabbatfeiern zu Ende. Aus dem Lieder- und Gebetbuch für Juden und Christen, den Psalmen, hören wir Worte aus dem 73. Psalm, übersetzt von Arnold Stadler.
Gott ist für Israel nichts als gut
für alle reinen Herzen
Und was ist mit mir?
Fast wäre ich gestolpert und umgekippt, denn
ich habe mich über die Reichen empört!
Ich war außer mir, als ich sah,
dass es dieser Gesellschaft so gut ging.

Sie kennen unseren Schmerz nicht.
Sie können kaum aus den Augen sehen vor Überfluss
und dabei denken sie sich neue Geschäfte aus.
Was sie sagen, verschlägt mir die Sprache
Sie reißen das Maul auf, das Volk bewundert sie auch noch.
Ich aber bleibe immer bei dir, du hältst mich fest an meiner Hand.
Was ist der Himmel anderes als Du? Gott nahe zu sein ist gut für mich.

Quelle: Arnold Stadler, „Die Menschen lügen. Alle.“ und andere Psalmen, Insel Verlag
Frankfurt a. M. 2002, 49