Abendsegen | Sonntag. 1. September

Wahlabend – wie werden Sieger und Verlierer mit den Ergebnissen morgen leben? Unruhige Nachtstunden kommen. Die Frage lautet: Gibt es über allen Spaltungen eine gemeinsame Leitlinie? Was muss alle verbinden, verbindlich für alle bleiben? Unsere politische und religiöse Freiheit in Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott ist der Herzschlag der europäischen Kultur, also Toleranz. Was ist Toleranz?

„Da bin ich ganz tolerant“, sagt einer. Und das heißt: Mir ist das egal!!  „Meine Toleranz ist erschöpft!“ sagt eine zur fürchterlichen Unordnung im Kinderzimmer. „Tolerantes Paar sucht gleichgesinntes“, Ist es das? Arme Toleranz. Toleranz – das meint Aushalten der Differenzen, Dulden und Ertragen der

von meiner Meinung abweichenden Position, schmerzlicher Verzicht auf Harmonie, leben lernen inmitten von Gereiztheiten und dabei den Traum nicht verraten, dass Wolf und Lamm Freunde werden können! Toleranz – sie sollte der Pulsschlag jeder Tagesordnung werden. Jedem, der glaubt, es müsse Feindschaft geben, widerspricht die Bibel. Sie kennt die Nächstenliebe, die trägt auch den Namen Toleranz.

Und der Friede Gottes, der weiter reicht als unsere Vernunft, bewache und bewahre unsere Herzen in in der Liebe unseres Bruders Jesus Christus.

Abendsegen | Sonnabend, 31. August

Bevor in der Bibel von den Völkern erzählt wird, ist von der Erschaffung des Menschen die Rede, wobei die Grundaussage ist: Der Mensch, das sind Mann und Frau. Mann und Frau für sich sind nur ein halber Mensch – eine sehr alte Erfahrung… Vom Menschen wird erzählt, nicht vom ersten Griechen oder Indianer, nicht vom Repräsentanten eines Volkes. Weder erschafft Gottverschiedene Hautfarben, Kulturen, Herren oder Sklaven. – der Mensch wird erschaffen. Das ist so, sagt die jüdische Tradition, dass niemand sagen kann: „Mein Vater war größer als deiner!“

Der biblische Anfang war universal, später erst wollen die Leute ein Reich, ein Volk, eine Sprache, einen Führer und einen Turm bis zum Himmel und erleben eine Katastrophe. Morgen werden sehr unterschiedliche Programme und Menschen gewählt – gemeinsam sollte ihnen die Mit-Menschlichkeit sein.

Unser Vater, du weißt, wie schwierig es in dieser Woche war, den richtigen Weg zu finden, dich zu bezeugen, von dir zu sprechen oder zu schweigen. Schenke uns allen eine ruhige Nacht.

Abendsegen | Freitag, 30. August

Für die jüdische Gemeinde ist es wieder Schabbat geworden – Zeit, der hebräischen Weisheit das Wort zu geben: Rabbi Sussja kommt zum Himmel. Er hat alle Gebote erfüllt. Sein Name ist im Buch Lebens eingetragen. Da fragt ihn Gott nach der Stadt, aus der er kommt.

„Hat sich dort nicht ein schreckliches Blutbad zugetragen?“
„Ja, es war entsetzlich.“
„Hast du dagegen protestiert?“ , fragt Gott.
Sussja antwortet: „Hätte es denn etwas genützt?“
Gott sagt: „ Das weiß ich nicht, aber vielleicht dir.“

Gott sei uns gnädig und segne uns, er lasse sein Angesicht leuchten über uns, dass man auf Erden seinen Weg erkenne, unter allen Völkern sein Heil.

Abendsegen | Donnerstag, 29. August

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gehört zu den höchsten Auszeichnungen, die unser Land vergibt. Lang ist die Liste der Persönlichkeiten, die für ihren geistigen Mut, politische Vorbildlichkeit und humane Courage gewürdigt wurden. Seit 2016 gehört Navid Kermani zu ihnen, ein Autor, der aus muslimischer Tradition kommt. Er wurde gefragt, was für ihn Rettung bedeute, ob er einmal gerettet worden sei. Navid antwortete: 

„ Erst wollte ich nennen Unfälle, die glimpflich ausgingen… Aber dann sprach ich über meine früheste Erinnerung, den für mich ungewohnten Ohrenschmerz, wegen dem ich schrie und meine Mutter holt mich aus Gitterbett und nimmt mich in die Arme, dies Gefühl des umfassenden Trostes, dies Gefühl, mit dem Schmerz nicht mehr allein zu sein…es ist jemand für dich da,.. dieser Umschlag von der bodenlosen Einsamkeit in die Geborgenheit…ja, das war Rettung, wie jeder Mensch sie einmal erlebt hat – erlebt haben sollte – und im Gedächtnis bewahrt“.

Gottes Segen umhülle uns wie ein Mantel, begleite und stärke uns auf allen Wegen.

Quelle: Navid Kermani, Ungläubiges Staunen, Über das Christentum, C.H. Beck, München 2015, 92

Abendsegen | Mittwoch, 28. August

Wahlen nahen und sie lösen beunruhigende Gefühle aus. Es geht dabei um nicht mehr als um die Frage, wie wir miteinander leben wollen – hier bei uns – aber auch in Europa. Wie bezaubernd die humorvolle Klugheit der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska. Ich lese ihr Gedicht Psalm:

Wie undicht sind die Grenzen menschlicher Staaten!
Wie viele Wolken treiben straflos darüber hinweg,
Muss ich hier jeden Vogel erwähnen wie er fliegt oder wie er sich eben setztauf den gesenkten Schlagbaum?
Von ungezählten Insekten nenne ich nur die Ameisen,
die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzpostens auf dessen
Frage: woher, wohin,- sich zu keiner Antwort bequemt.
Schmuggelt da nicht vom anderen Ufer die Weide das hunderttausendste
Blatt über den Fluss?
Kann überhaupt von Ordnung gesprochen werden, wo man nicht einmal die
Sterne ausbreiten kann, damit man weiß, wem welcher leuchtet?

Gott segne und behüte uns, er schenke uns den Blick auf seine grenzenlos schöne Welt!

Quelle: Wislawa Szymborska, Deshalb leben wir, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1980, 59f, Auszüge, s. auch: W.S., Hundert Freuden, Gedichte, Suhrkamp 1996, 49f.

Abendsegen | Dienstag, 27. August

Eine Kollegin hat ein Buch über den „Segen“ geschrieben. Im Vorwort erzählt sie, wie sie abends am Bett ihres Sohnes saß und sagte: „So, nun schlaf gut, mein Schatz, wir sind im Haus und der liebe Gott ist bei dir!“ „Gute Nacht, Mama“. Sie wollte gehen, da hörte sie das Kind: „Ich habe aber trotzdem Angst!“ Der Junge hatte Angst, wohl nicht viel, aber doch zu viel, um einschlafen zu können.

Und die Mutter spürte, dass sie allein dem Kind die Angst nicht nehmen konnte. Da kam ihr ein Gedanke und sie sagte: „Es gibt ein Zeichen, dass Gott wirklich da ist! Soll ich dir ein Segenszeichen auf die Stirn machen?“ Er nickte und die Mutter zeichnete mit dem Daumen ein Zeichen auf die Stirn. „Gott segne dich und behüte dich!“ Der Junge murmelte, er glaube jetzt schlafen zu können. Die Mutter war glücklich und küsste ihn auf den Stirn. Wieder völlig wacher Protest: „Jetzt hast du den Segen weg geküsst. Mach ihn sofort wieder hin!“ Also alles noch einmal, das Zeichen und die Worte…

Gott, der uns schuf und festhält, der uns kennt und liebt, Kleine und Große, wende seinen Segen uns zu und bewahre unser Leben.

Erzählt nach Dorothea Greiner, Segen und Segnen, Kohlhammer 2003 (div. Auflagen)

Abendsegen | Montag, 26. August

In der Schweiz gibt es für gut schmeckende Sachen sehr charmante Namen. Das Mistkratzerli fürs Hühnchen und die Vogelnestli und Pfaffenhuetli findet man in der Konditorei. Meine Tochter arbeitete einige Jahre in Luzern, dort lernte sie etwas Großartiges kennen: Sie fragte vor dem Gang zum Bäcker eine ziemlich erschöpfte Kollegin, ob sie ihr etwas mitbringen könne. „Am liebsten ein Ufstellerli“. Ein „Ufstellerli?“ Was ist das? In der Bäckerei nahm die Verkäuferin ein Brötchen mit Schoggi, also Schokowürfeln aus der Ablage.

Das sollten wir einander auch schenken, ein Wort, das bestärkt, wieder aufstellt, ermuntert, erfreut, ein geistliches „Ufstellerli“, ein beschwingtes „Auf!“ Ich denke sogar, dass die Auferstehung Jesu das tollste „Ufstellerli“ ist. Wäre das nicht morgen ein phantastischer Spaß, einem Mitmenschen ein Ufstellerli mitzubringen?

Unser Vater, segne unsere Nacht, stärke uns, dass wir morgen Mut und Kraft finden, anderen – wir wissen schon, wem – ein Ufstellerli zu schenken