Yehudi Menuhin, der große Musiker, hat seine Lebenserinnerungen geschrieben und sie „Unvollendete Reise“ genannt. Einmal schreibt er auch über die Interpretation eines Musikstücks:
„Im Idealfalle würde man eine Passage ganz gleichmäßig spielen und gerade so viele Unregelmäßigkeiten zulassen, dass ein Element der Lebendigkeit spürbar bleibt.“ Für Menuhin ist diese kleine Unregelmäßigkeit, diese Lebendigkeit, die sich nicht ans Vorgeschriebene hält, dieser Sprung in der Partitur „La part de Dieu – der Teil Gottes“. Er schreibt, das sei es, wovon jede Aufführung fast unbewusst bestimmt sei.
Ich finde das wunderbar: Die Noten vollkommen , so exakt wie nur möglich zu spielen – und dann ein kleiner Spielraum, ein kreativer Sprung dazwischen, den er nicht in der Hand hat, die den Bogen führt, der aber alles bewegt und belebt – La part de Dieu – Gottes Teil.
Gott segne uns alle in unserem angestrengten Leben mit jenen kleinen Teil von überraschender Lebendigkeit, der unsere Nacht- und Tagzeit immer erneut so wunderbar werden lässt.
Monat: Oktober 2022
Abendsegen | Sonnabend, 22. Oktober 2022
In den frühen Anfangstagen waren die Frauen und Männer, die an Jesus Christus glaubten, in ihrer Umwelt bekannt als jene, „die dem Weg folgten“. So nannte man sie, die „die dem Weg folgten“, gemeint war der Weg des Jesus Christus. Erst viel später bezeichnete man sie als „Christen“.
Was beim Weg allein zählt, ist das Gehen. Und bei ihnen kam hinzu, dass sie zusammengingen, zusammenlebten, zusammengehörten. Dies Zusammengehören war gegenseitig und allumfassend. Es gab nicht oben unten, Herren und Knechte, sie nannten sich „Schwestern und Brüder“. Das war eine Tatsache und Geschenk. So wurde Dankbarkeit das Merkmal ihrer Lebendigkeit schlechthin. Dankbarkeit wurde ihre Antwort auf das Leben, ganz gleich, was es brachte.
Solche Anfänge hat es häufig gegeben, solche Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, nach Zuwendung. Füreinander handeln, aufeinander hören, aneinander denken – damit werden Menschen einander gerecht. Die neue Woche wird viele Gelegenheiten dazu geben.
Gott lasse sein Angesicht leuchten über unserer Nacht, er lasse uns nicht aus seiner Hand gleiten, er begleite uns auf unseren Wegen.
Abendsegen | Freitag, 21. Oktober 2022
Es ist wieder Freitagabend geworden, für die jüdische Gemeinde und ihre Familien Schabbat-Abend. Nach dem Gottesdienst wird darauf geachtet, dass niemand allein nach Hause geht, jeder ein ausreichendes Mahl hat. Dazu gehört eine Geschichte, die ein jüdisches wie christliches Problem berührt:
Dem Rabbiner wird mitgeteilt, dass ein Mann in seiner Gemeinde gestorben ist. „Was hat ihm gefehlt?“, fragt der Rabbi. „Er ist verhungert“, wird ihm gesagt. „Kein Jude kann Hunger sterben! Wäre er zu mir gekommen, so hätte ich ihn unterstützen lassen!“ „Rabbi, er hat sich geschämt!“
„Also ist er an seinem Stolz gestorben und nicht am Hunger! Am Hunger stirbt kein Jude!“
Wir kennen den Ausspruch: Sein Stolz lässt es nicht zu, dass er sich Hilfe holt. Im richtigen Moment Stolz zu zeigen, kann uns stark machen. Im falschen Moment kann er uns zerstören. Nie sollte er uns hindern, Hilfe zu holen, wenn wir sie brauchen! Wie beim Rabbi muss es heißen: „An Hunger stirbt kein Christ!“ Man muss den Menschen die Chance geben, großzügig zu sein. Es tut auch ihnen gut.
Möge Gott uns in dieser Nacht segnen und bewahren, stärkend und mutmachend, und uns aufstehen lassen in ein erfülltes Leben.
Abendsegen | Donnerstag, 20. Oktober 2022
Die meisten von uns haben wohl immer einen Schlüssel bei sich, Haus- oder Wohnungsschlüssel, Autoschlüssel, oder gar einen ganzen Schlüsselbund. Wie viel Zeit haben wir schon verloren auf der Suche nach unseren Schlüsseln, wie hilflos, ohnmächtig waren wir, wenn wir sie verlegt oder verloren hatten. Im übertragenen Sinne stehen wir oft verschlossenen Menschen gegenüber – welche Schlüssel brauchen wir dann? Wir ahnen, dass die Schlüssel des Geldes so manche Tür öffnen. Blumen sind übrigens kein schlechter Schlüssel, Blumen zeigen immer Aufmerksamkeit. Wann habe ich denn zum letzten Mal Blumen den Eltern, der Schwiegermutter mitgebracht…?
Wie schön, einem aufgeschlossenen Menschen zu begegnen! Und oft bitten wir andere, sich dieser Begegnung oder jener Erfahrung nicht zu verschließen!
Ja, was auch wichtig ist: Grobe Hände ohne Fingerspitzengefühl können kleine Schlüssel nicht gut fassen! Der Zündschlüssel ist so klein und was er an Energie in Gang setzt!
Ob ich selber für andere Menschen zu einer Schlüsselfigur werden kann? Ich ahne schon, für wen…
Ich muss das mal aufschlüsseln!
Abendsegen | Mittwoch, 19. Oktober 2022
Bevor ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste ich noch einmal zum Kardiologen. Er sollte ein EKG erstellen und mein Herz mit dem Ultraschall untersuchen. Er wurde mir von verschiedenen Pflegeschwestern mit einem liebevollen Lächeln empfohlen, er sei ein älterer „Doktor aus Indien“. Ich war sehr gespannt, als er sich neben mich setzte und mit seiner Hand mein Handgelenk sehr kräftig umfasste, um den Puls zu fühlen. Zuerst war leicht enttäuscht – was sollte das mit dem Puls zählen, wo doch das EKG gleich drankäme. Dann schämte ich mich: Durch die feste Berührung und die nahe Zuwendung und das aufmerksame Zählen waren wir uns ja auf eine wunderbare Weise viel näher näher gekommen als durch hundert Blicke auf die Computerbilder.
Ich habe gar nicht mehr gefragt, was dabei herausgekommen ist, weil die feste, nahe und dichte Berührung mich mehr beruhigte als alle Ergebnisse. Der „Doktor aus Indien“, hatten die Schwestern gesagt – und ich hatte verstanden, was ein Kontakt ist…
Guter Gott, schenke uns einen beruhigenden Schlaf und morgen berühre uns mit deiner Kraft.
Abendsegen | Dienstag, 18. Oktober 2022
Es kommen die Tage, an denen wir morgens oder abends vor das Haus treten, die Luft einatmen, zum Himmel schauen und sagen: Es wird Herbst…Ein anderer Wind kommt auf nach diesem heißen Sommer. Bertolt Brecht schreibt: „Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind die Straße lang trieb, und ich dachte: Schwierig den künftigen Weg des Blattes auszurechnen…“
Das kann uns beim Einschlafen durch den Kopf gehen: den künftigen Weg des Blattes auszurechnen, das künftige Weitergehen unseres Lebens, unserer Arbeit, der Menschen, groß und klein mit uns…
Ich habe einmal in Israel von Beduinen gehört, die Wüste sei schön, weil sie irgendwo eine Quelle beherberge – wo, weiß niemand; nur, wenn es still ist, kann man sie hören. Seltsam, dass sich die Quellen des Lebens oft verstecken. Wie schön wäre es, ohne Angst dem Herbst und dem Winter zu begegnen wie einer im Halbdunkel versteckten Quelle. Doch gleichen unsere Gedanken mehr den Drachen, die in der Herbstluft von den Winden hin- und her gerissen werden, in die Höhe jagen und in Schwingen sinken, mag sein, in den Schlaf.
Wir bitten um deinen Segen, Gott. Lass uns alles zum Segen werden, den Mond über uns, die Erde unter uns, den Herbst vor uns, das Band der Gemeinschaft zwischen uns und die Ruhe der Nacht!
Abendsegen | Montag, 17. Oktober 2022
Der erste Tag der Arbeitswoche kommt an sein Ende. Wir sind Menschen begegnet, den leuten im Haus, haben endlich mal wieder mit der Freundin telefoniert und herumgehört, wie es hier und da mit Corona steht und dem Leben so allgemein. Es könnte sein, dass auch wir zu dem Schluss kommen, den die Dichterin Marie-Luise Kaschnitz zieht in ihrem Gedicht „Ziemlich viel Mut“.
Sie schreibt:
„Ich finde doch, dass ziemlich viel Mut in der Welt ist…wenn man bedenkt, dass es gar niemand gibt, der nicht seine Sorgen hätte, zumindest diese: Kind, was wird dir geschehen?
Und wir wissen doch alle, wie sehr misstrauen dem Dach über unserem Kopf und der Erde unter unseren Füßen…Und doch habe ich heut gesehen, wie einer die Buche pflanzte, den dürren Stecken…Den ganzen Tag habe ich Lastwagen fahren sehen voll Bretter und Schwellen, voll Balken und roter Ziegel. Ich sah mein eigenes Gesicht im Spiegel, als ich fortging, dir zu begegnen. Wie war es voll Freude.“
Unser Vater, segne unseren Schlaf mit der Gewissheit, dass auch morgen uns der Mut für einen neuen Tag stärkt und anfangen lässt.
Quelle: Marie-Luise Kaschnitz, Ziemlich viel Mut in der Welt, Gedichte und Geschichten,, Insel Verlag, Frankfurt a. Main 2002, 158
Abendsegen | Sonntag, 9. Oktober 2022
Einer der liebenswürdigsten und klügsten Menschen der englischen Geschichte ist Thomas Morus. Der Zeitgenosse Luthers widersetzte sich der staatlichen Macht über die Kirche, schrieb eine kühne Alternative zum Staat: „Utopia“ und nebenbei auch ein „Gebet um Humor“.
Schenke mir eine gute Verdauung, Herr, und auch etwas zum Verdauen. Schenke mir Gesundheir des Leibes mit dem nötigen Sinn dafür, ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Herr, damit sie im Anblick der Sünde nicht erschrecke, sondern das Mittel finde, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele, der die Langeweile fremd ist, Lasse nicht zu, dass ich mir allzu viel Sorgen mache um dieses sich breit machende Etwas, das sich „Ich“ nennt.
Herr, schenke mir Sinn für Humor. Gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen, damit ich ein wenig Glück kenne im Leben, und anderen davon mitteile. Amen.
Die Menschenfreundlichkeit Gottes begleite uns durch die Nacht und schenke uns morgen den guten Beginn einer neuen Woche.
Quelle: B. Becker, H. Möhler, Abendfibel müder Seelen, Luther Verlag, 2019, 24f. (gekürzt)
Abendsegen | Sonnabend, 8. Oktober 2022
Die Woche ist zu Ende gegangen. Vieles lief ganz normal, man könnte sagen, wie selbstverständlich. Aber in einer sogenannten „ruhigen Minute“ geht einem doch durch den Kopf, ob denn das alles selbstverständlich ist? Es ist doch nicht selbstverständlich, dass ich heute morgen aufgewacht bin. Nichts ist selbstverständlich: Dass der Arm am Körper,
das Brot auf dem Tisch, die Zeitung im Kasten und das Geschenk am Geburtstag!
Selbstverständlich ? Meine Brille, die Bäume, die Demokratie, meine Geschwister, keine Folter, kein Hocken im Keller beim Raketenalarm – nichts versteht sich von selbst…
Behütet sein, keine Angst haben brauchen, auf dem Wochenmarkt grüne Heringe kaufen, das Meer, der Wald, die Therapeutin für die Füße, meine Freiheit, an die Ostsee zu fahren – alles selbstverständlich? Ich sage mal: So viel Gnade, so viel Segen, die mir aus irgendwelchen himmlischen Fenstern zugefallen sind– zugestanden ist mir keiner. Und die Erfahrung, es kommen neue Tage – zum Danken!
Der Schöpfer im Himmel sei uns gnädig und einen wohltuenden Schlaf schenke er uns, selbstverständlich ist er nicht…
Abendsegen | Freitag, 7. Oktober 2022
Freitagabend ist Schabbatabend und zur jüdischen Tradition gehört es, vor dem Anbruch der Nacht den 91. Psalm zu beten. In der christlichen Tradition wird er bei Taufen und Trauungen gesprochen. Er ist der Psalm der Bewahrung und des Schutzes. Ich lese Verse aus Psalm 91 in der Übersetzung meines Kollegen und Freundes Lorenz Wilkens:
„Welchen der Höchste schützt, der ruht in Herrschers Schatten
und spricht zu ihm: Herr, meine Zuflucht, meine Burg, mein Gott, dem ich vertraze.
Denn er wird dich retten vor der Schlinge des Jägers, vor Pest und Tod.
Mit seinen Flügeln deckt er dich, du findest Zuflucht dort, seine Treue ist dein Schild.
Fürchte nicht den Schrecken der Nacht, am Tage nicht den Pfeil,
die Pest nicht, die des Nachts einher schleicht, die Seuche nicht,
die mittags dreinschlägt…….Dich wird kein Übel treffen, dein Zelt kein Unheil je erreichen.
Denn er gebietet seinen Engeln dich zu behüten auf allen deinen Wegen
mit ihren Händen dich zu tragen, damit dein Fuß an keinen Stein stößt…“