Abendsegen | Sonntag, 10. Mai

Der zweite Sonntag im Mai wird als Muttertag herausgehoben. „Nazifeiertag“?, „Erfindung der Blumenindustrie“! – er ist umstritten. Unbestritten ist, dass das, was Frauen und Mütter leisten, immer noch zu wenig gesehen und gewürdigt wird. Die Lebensbegrenzung auf das Zu-Hause hat wieder ihnen die Hauptlast auferlegt. Das; was sie sind, wird noch zu oft von anderen beschrieben. So gebe ich meiner schweizerischen Kollegin Jaqueline Keune das Wort. Sie will das Leben der Frauen bedenken:

Der kluge Gedanke,     Die kraftvolle Lebendigkeit.
das mutige Wort     die verändernde Beharrlichkeit
die eingeteilte Zeit –     das kritische Bedenken –
wegen euch.     wegen euch.

Das warme Brot,     Der Blick für das Ganze,
das verbunden Knie,     der Zorn über die Ungerechtigkeit
die getrockneten Tränen –     die Sehnsucht nach Ganzheit –
wegen euch.     wegen euch.“

Unser Vater, du hast uns Männer und Frauen geschaffen, ganz nach deinem Bilde, auf dass wir das Leben lieben – begleite und behüte unsere Nächte und Tage, beschütze uns alle.

Quelle: Jacqueline Keune, Von Bedenken und Zusagen, Grünewald Verlag Mainz, 2005, 44f.
(Auszüge)

Abendsegen | Sonnabend, 9. Mai

Der morgige Sonntag trägt den Namen „Cantate“, zu deutsch „Singet“. Die Muttersprache des Dankes sind die Lieder und ist die Musik. Danken ist nicht ganz leicht. Wer dankt, schlägt nicht. Wer dankt, benutzt nicht. Wer dankt, zerstört nicht. In den Liedern kann unser Mund oft viel mehr, als unser Verstand schon kann. Und manchmal schleifen die Lieder das müde Herz hinter sich her, bis es wieder auf eigenen Füßen stehen kann. Über das ewige Leben weiß man nichts, nur, dass die Lieder und die Musik die Vorspiele dazu sind, sagt der kluge Kirchenvater Augustinus. Dass man eine Predigt Vorspiel des ewigen Lebens genannt hat, ist mir nicht zu Ohren gekommen. Dagegen gibt es unter den Musikfreunden eine große Zahl, die ich die Bach-Christen nennen würde.

Als den Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften für ihren herausragenden Kampf gegen Krankheit und Tod in der Virus-Krisis gedankt wurde, geschah es mit Musik. Nicht peinliche Worte mächtiger Präsidenten dankten, sondern Violinen, Trompeten und Lieder. Im Dank liest man die Welt schon besser als sie noch ist. Der morgige Sonntag heißt „Singet“, „Cantate“. Ich wünsche Ihnen einen lebhaften Sonntag!

Möge Gott uns segnen, möge Gott unsere Nacht und unseren Tag bewahren, möge er uns den Mund öffnen zu Dank und Gesang, möge er unser Leben mit Liebe leiten!

Abendsegen | Freitag, 8. Mai

8. Mai 2020, 75 Jahre Kriegsende. War der 8. Mai 1945 ein Nullpunkt? In den menschlichen Lebenslinien gibt es keinen Nullpunkt. Es gibt ein Nullpunkt-Gedicht: „Inventur“, 1945/1946 geschrieben von Günter Eich. „Inventur“ ist das Bilanz-Ziehen im Blick auf das, was geblieben ist, nachdem alles vorüber ist.

Einige Zeilen aus Günter Eichs „Inventur“

Dies ist meine Mütze    im Brotbeutel sind
dies ist mein Mantel    ein Paar wollene Socken
hier mein Rasierzeug    und einiges, was ich
im Beutel aus Leinen    niemand verrate..

Konservenbüchse        Dies ist mein Notizbuch
Mein Teller, mein Becher    dies meine Zeltbahn,
Ich hab in das Weißblech    dies ist mein Handtuch …
den Namen geritzt.    dies ist mein Zwirn

„Zwirn“ ist das letzte Wort. Das Zerrissene, das Getrennte muss wieder miteinander vernäht werden. In der Bibel gibt es nur ein Wort für Zusammennähen und Heilen. Darum geht es
seit 75 Jahren.

Unser Vater, segne unseren Schlaf und unser gestärktes Leben, das mit so vielen Menschen
verbunden und verflochten ist.

Quelle: H.W. Richter (Hrsg.), Deine Söhne, Europa, Gedichte deutscher Kriegsgefangener,
Nymphenburger Verlagsgesellschaft 1947, S. 17

Abendsegen | Donnerstag, 7. Mai

Zu den Grundpfeilern unserer Zivilisation gehört die Verabredung, dass die Frage „Wie geht’s?“ mit „gut“ zu beantworten ist. Nörgler nennen das eine Floskel. Aber auf die Frage „Geht’s Ihnen gut?“ zu antworten „Nein danke, und Ihnen?“ ist auch etwas ungewohnt.
Bei dem, was wir zur Zeit durchmachen, plädiere ich für eine zeitgemäßere Begrüßung: Statt des neutralen „wie geht es dir?“ bin ich für ein solidarisches „Wie hältst du dich?“
Im Alltag kommen wir uns ja dauernd zu Hilfe, sagt der Soziologe Heinz Bude in seinem Buch „Solidarität“ mit kluger Liebenswürdigkeit.

Wir treten zurück, wenn wir jemand den Blick auf den Fahrplan versperren; wir heben eine heruntergefallene Serviette auf, geben einem durch Handzeichen zu verstehen, dass er in die falsche Richtung geht. Gut, in Japan steigt man anders in den Zug als in Großbritannien, in Neukölln kann eine Geste der Hilfe mal schlecht ankommen. Trotzdem wirken alltägliche Hilfen als Signale zwischenmenschlicher Aufmerksamkeit, von der herausragenden Arbeit in Krankenhäusern reden wir nicht, sie kann man nur stumm bewundern! Neben vielem anderen erleben wir eine Zeit der Zuwendung, der einfallsreichsten Anteilnahme.
Solidarität ist eine große Idee!

Unser Vater, segne uns, lasse dein Angesicht freundlich über uns leuchten – lass uns morgen
in Freundlichkeit den Weg zum anderen finden.

Abendsegen | Mittwoch, 6. Mai

Zu unseren Zeiten gehört es, dass wir vorsichtig mit anderen und mit uns umgehen.
Eine wunderbare Geschichte über die Vorsicht heißt „Der vorsichtige Träumer“, von Johann Peter Hebel, aus seiner Sammlung „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“, von 1811, geliebt und verehrt von Goethe bis Brecht. Hebel schreibt formvollendet einfach von anrührenden Charakteren. Hier „Der vorsichtige Träumer“:
„Es gibt doch einfältige Leute in der Welt. In dem Städtchen Witlisbach im Kanton Bern war einmal ein Fremder über Nacht, und als er ins Bett gehen wollte und ganz bis auf das Hemd ausgekleidet war, zog er noch ein Paar Pantoffeln aus dem Bündel, legte er sie an, band sie mit Strumpfbändeln an den Füßen fest und legte sich also in das Bett.
Da sagte zu ihm ein anderer Wandersmann, der in der nämlichen Kammer über Nacht war:
‚Guter Freund, warum tut ihr das?‘ Darauf erwiderte der erste. „Wegen der Vorsicht. Denn ich bin einmal im Traum in eine Glasscherbe getreten. So habe ich im Schlaf solche Schmerzen davon empfunden, dass ich um keinen Preis mehr barfuß schlafen möchte.“

Unser Vater, behüte unseren Schlaf, dass wir morgen wieder alle Vorsicht walten lassen im
Leben mit unseren Nächsten und mit uns.

Quelle: Johann Peter Hebel, Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, Cotta Verlag,
Tübingen, 1811, S.102f. Erstausgabe einsehbar in der Tübinger Uni-Bibliothek, oder in einer der handelsüblichen Ausgaben!

Abendsegen | Dienstag, 5. Mai

Einer, so wird erzählt, kam nachts zu Jesus. Im Schutz der Dunkelheit. Denn, wenn es Nacht wird, steigen die Fragen in uns auf. Wenn es ganz ruhig geworden ist, steigt die Unruhe auf. So viele Antworten stehen noch aus…
Einer nutzte die große Stille und brachte seine Fragen mit: Wie kann ein Mensch neu geboren werden, wenn er schon alt? Ist Veränderung möglich? Jetzt noch? Scheint doch alles festgefahren. Manches misslang. Vieles blieb liegen. Jetzt will er es wissen: Wie ernst ist die Rede vom Neubeginn, vom Immer-wieder- neu-beginnen-können? Damit kam er nachts zu Jesus. Und der war ansprechbar. Sprach in der Nacht vom Licht. Sprach zu dem, der sich am Ende glaubte, vom Neuanfang. Er sprach zu dem, der meinte, nichts zuwege zu bringen.
Gott sei unterwegs – auch zu ihm. Das sagte er dem, der nachts zu ihm kam. Er war ansprechbar. Erst recht, wenn es Nacht wird. Und die Fragen kommen.

Unser Vater, segne uns mit der Gewissheit, dass die Fragen zur Ruhe kommen, dass wir zur Ruhe kommen. Hilf uns durch alles, was uns bevorsteht.

Abendsegen | Montag. 4. Mai

Das Schlafzimmer oder noch besser: das Bett ist vielleicht der Ort im Haus, der am eindringlichsten Zeuge der entscheidenden und intimen Augenblicke eines Menschenlebens ist. Wir werden, zumindest im Regelfall, im Bett gezeugt und geboren, wir lieben dort, sind krank und sterben dort. Wir lachen, weinen, lesen und spielen im Bett. Wir suchen das Schlafzimmer und das Bett jede Nacht wieder auf. Wir finden dort die Ruhe im Schlaf oder liegen dort grübelnd, wach. Wir sitzen am Bett unserer Kinder und Kranken und versuchen ihnen nahe zu sein. Die Geheimnisse von Leben und Tod, Rührung und die Verwirrung darüber: im Bett und an ihm können wir ihnen am wenigsten entgehen.
Für mich waren die Betten das Zeichen der Virus-Krise, weiße Betten, gerollt, geschoben auf engen Fluren, hochgehoben in Zugabteile, Versuche der Rettung und Heilung. Lebensleidenschaft, Schwäche und fürsorgliche Bewahrung kommen in einem Bild zusammen. Kummer, Schmerz, Wut und Ohnmacht können uns beherrschen, aber auch Ergebung, Vertrauen und Zuversicht können uns stärken. Mein abendliches Zu-Bett-gehen ist bewusster geworden.

Unser Vater, schenke uns einen vertrauensvollen Schlaf und lass dein Angesicht leuchten über uns.