Abendsegen | Sonntag, 20. Dezember

Noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest. In den Medien wird es wieder Bilder geben aus Bethlehem samt den sorgenden Kommentaren, dass an dem Geburtsort des Friedensbringers Jesus von Nazareth, aggressive Konflikte das Leben bedrohen. Der israelische Schriftsteller Abraham Yehoshua erzählt in seinem Roman „Der Tunnel“ von Israelis, Privatleuten, die jeden Tag in der Frühe an die Grenzen, auch nach Gaza-Stadt, mit ihren Autos fahren, kranke Kinder, geschwächte Alte überhaupt Palästinenser einladen und sie in nahegelegene Krankenhäuser zur Behandlung fahren. Am Abend holen sie sie dort wieder ab und fahren sie zurück nach Hause.

Das Krankenhaus, sagt Yehoshua, sei immer ein Ort guter Zusammenarbeit gewesen. Arabische Ärzte behandeln Israelis wie umgekehrt. Es ist gut zu lesen, dass es das Krankenhaus ist, an dem das Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinensern nicht nur möglich ist, sondern auch gut funktioniert. Das ist keine Utopie, sondern das tägliche Leben. Und es soll vorkommen, dass die arabische Mutter ihr zurückgebrachtes Kind aus dem Auto hebt und „toda raba“ sagt, das ist hebräisch und heißt: „Vielen Dank!“

Unser Vater in den Himmeln, segne uns für diese Nacht mit Freunden und Fremden, breite deinen Mantel der Freundlichkeit über uns alle. Lasse die Türen unserer Herzen angelehnt…

Abendsegen | Sonnabend, 19. Dezember

Ein hochbefrachtetes Bibelwort der Weihnachtszeit heißt „Erschienen ist die heilsame Gnade Gottes“. „Gnade“ – ein großes Wort, kirchlich vereinnahmt und hochherrschaftlich geprägt, klingt ein wenig von oben herab, verpflichtend, Aber was hat Martin Luther da übersetzt? Im Originaltext steht das griechische Wort „charis“, das wir rasch als „Charme“, als „chamant“ und damit als „bezaubernd, unwiderstehlich, liebenswürdig“ verstehen. Wer es feiner haben will: „Charme“ wäre im Deutschen „Anmut“. „Erschienen ist die ‚Anmut Gottes“‘ – war das für Luther zu unernst? Wenn wir einmal Verliebtheit ausklammern – was gibt es bezaubernderes, charmanteres als das Lächeln eines kleinen Kindes?

Das wird alle erfreut haben, die Eltern wie auch die grobklotzigen Hirten und die

feinsinnigen Gelehrten? Das Glück darüber hat nichts Gezwungenes. Von Anmut und Charme werden wir bezaubert und unwiderstehlich angezogen, Deshalb erfand die Tradition noch allerlei  Elendsgestalten hinzu, Räuber, Ochs und Esel, den berüchtigten Krippenfloh. Selbst Joseph, etwas im Hintergrund, soll für das Kind seine Hosen gekürzt haben, um es zu wärmen. Im Kind erscheint die Anmut, der Charme Gottes. Wer kann sich dem entziehen?

Unser Vater in den Himmeln, Lass uns zum Segen werden den Mond über uns, die Erde unter uns, die Freundschaft zwischen uns und die Ruhe der Nacht vor uns!

Abendsegen | Freitag, 18. Dezember

Heute endet das achttägige jüdische Chanukka-Fest – ein Lichterfest, dem Adventsfest ähnlich. Chanukka heißt Einweihung, weil in alter Zeit das verwüstete Heiligtum in Jerusalem wieder eingeweiht wurde. Bei den Arbeiten fand man einen unversehrten Ölkrug mit Öl, das den siebenarmigen Leuchter einen Tag zum Leuchten hätte bringen können – ein Wunder geschah, der siebenarmige Leuchter brannte acht Tage lang. Daraus entstand das Chanukka-Fest: an jedem Tag wird eine Kerze mehr angezündet, bis es acht sind, die brennen. Der achtarmige Leuchter steht in jedem Fenster einer jüdischen Wohnung, nicht zur Beleuchtung, sondern als Bekenntnis zur leuchtenden Gegenwart Gottes. Die Kerzen brennen eine halbe Stunde, die Arbeit ruht. Kinder spielen mit einem Kreisel, auf dem die Anfangsbuchstaben für hebräische Worte stehen: nes gadol haja scham – ein großes Wunder geschieht dort, gemeint ist die Rettung des Tempels. Chanukka – ein sinnliches Fest mit gutem Essen, guter Musik, schönen Geschenken. Die Berliner nennen es „Weihnukka“…

Unser Vater in den Himmeln, der du das Licht erschaffen hast, segne auch die Dunkelheit unserer Nacht. Dass uns morgen wieder das Licht Deines Tages leuchten möge.

Abendsegen | Donnerstag, 17. Dezember

Der Segen ist die große Zustimmung des Schöpfers zur Welt und ihren Menschen, das „Ja“ Gottes. Zu allem, was in dieser Schöpfung lebt. Meiner Schweizer katholischen Kollegin Jacqueline Keune verschlug es die Sprache, als sie von einem Kardinal hörte, die Barmherzigkeit habe eine Obergrenze. Daraufhin schrieb sie:

„Segne, Gott, die schwarzen Schafe, die Bettler und die Verliebten, die Menschen auf ihrer Flucht, segne uns alle, dass neu werde die Erde, ganz neu!
Segne Gott die schrägen Vögel, die Kleinen und die Obdachlosen, die Kinder in ihrem Spiel, segne uns alle, dass neu werde die Erde, ganz neu!

Segne Gott die bunten Hunde, die Toren und die Habenichtse, die Kranken in ihrer Not, segne uns alle, dass neu werde die Erde, ganz neu.

Alles, was gut ist, alles, was still und stark ist, alles, was den Leib erfreut und das Herz bezaubert, alles, was die Liebe stärkt und das Recht stützt, komme über und durch uns in die Welt.“

Unser Vater in den Himmeln, wenn das Dunkel sich um uns lagert, segne uns mit der Güte deiner Gegenwart! Berge uns bei Dir bis zum Morgen.

Quelle: Jacqueline Keine, Scheunen voll Wind, Gebete und Gedichte, db-Verlag, Horw/Luzern 2016, S. 56f. und S. 42

Abendsegen | Mittwoch, 16. Dezember

„Mir hat keiner was geschenkt“, höre ich manchmal in Seelsorge-Gesprächen. „Ihm hat keiner was geschenkt.“, wird mir in Beerdigungsgesprächen versichert. Ist auch ein Kneipenspruch, manchmal zur Rechtfertigung rabiater Karrieren. „Mir hat keiner was geschenkt.“ Aber das stimmt nicht. Frage ich intensiver, stellt sich heraus: Vieles ist ihm geschenkt worden, wir leben vom Erbarmen. Das beginnt mit dem ersten Schrei nach der Geburt. Was wäre, wenn uns niemand auf den Arm genommen, getröstet und liebgehabt hätte?

Durch unser Leben führt eine Spur des Erbarmens. Wir leben davon, dass uns jemand hilft, uns zu essen gibt, pflegt, wenn wir krank sind, bei den Hausaufgaben hilft, uns aufbaut, wenn wir Murks gemacht haben. Als Erwachsene können wir uns das Wichtigste nicht selbst erarbeiten; die Liebe des Partners, der Partnerin, den Respekt der Kinder, die Gesundheit, das Glück. So vieles fällt uns einfach zu, wird uns geschenkt. Von wem? Von der Barmherzigkeit Gottes, die viele Mitarbeiterinnen engagiert!? Wie mit allen Geschenken sollen wir aufmerksam mit ihnen umgehen…

Unser Vater in den Himmeln, segne uns mit einem langen Atem. Lass uns beim Einschlafen nicht alle die vergessen, denen es nicht so gut geht wie uns.

Abendsegen | Dienstag, 15. Dezember

Der Schweizer Pfarrer und Autor Kurt Marti ist 96 Jahre alt geworden. Mit 86 verlor er seine Frau und zog sich zurück und lebte in einem Pflegeheim. Er blieb ein kritischer Denker. 92jährig schrieb er: „Hier in meinem Pflegeheim tut man vieles, um uns zu aktivieren. Doch wenn man mich fragt, kann ich nur antworten: Ich möchte nicht aktiviert, ich möchte in Ruhe gelassen werden.“

Ein so sympathischer Kontrast zu der „Anti-Aging“ -Industrie, den nordicwalkenden Alten, den Dauerfitten, die auf Fahrädern über die Alpenpässe strampeln und die Stadtmarathons bevölkern.

Warum soll man mit über 90 aktiv und sportlich sein? Muss man denn leistungsstark ins Grab fallen?  Im selben Brief schrieb Marti:„ Alles hat seine Zeit. Für mich heißt das: Reden, Schreiben, Friedenskampagnen ankurbeln, hatten ihre Zeit. Jetzt ist es Zeit zu schweigen, aus dem öffentlichen Diskurs zu verschwinden.“ Vier Jahre später, mit 96 Jahren, starb er – aktivierungsresistent, aber weise! Gott sei Dank!

Unser Vater in den Himmeln, schenke uns einen bekömmlichen Schlaf und segne unseren Mut zum Altwerden; Halte deine Hand schützend über uns und nimm die Angst vor dem, was noch kommen mag.

Abendsegen | Montag 14. Dezember

Meine Tochter konnte eine Wohnung übernehmen. Sie lud mich zur Besichtigung ein. Nun, die Vorhänge gefielen mir nicht, die Tapeten waren ein Graus und die Möbel – nein, unmöglich. Meine Tochter blieb hochbeglückt: Vorhänge, kommen weg, die Tapete? Sofort weiß streichen, Möbel?

Raus damit! Sie hatte alles schon im Kopf. Und mir wurde klar, sie sah die renovierte Wohnung! Sie würde sich in die Arbeit stürzen: Aufräumen, ausmisten, malen, renovieren – sie hatte ihren Traum vor Augen, eine helle, schöne Wohnung.

Und mir fiel die Geschichte vom Hochseilartisten ein: Der Rabbi schaut ihm zu und fragt ihn hinterher: „Worin besteht das Geheimnis, dass du nicht das Gleichgewicht verlierst?“ Der Artist stellt eine Gegenfrage: „Was glaubst du, wohin sollte man schauen, um das Gleichgewicht zu halten?“ Der Rabbi erwiderte: „Auf keinen Fall auf den Boden oder das Seil!“ „Genau“, sagte der Artist, „Und immer die Stange im Auge behalten, die das Seil am anderen Ende trägt. Und was ist der gefährlichste Augenblick?“ Der Rabbi sagte: „Der Moment, in dem du dich wieder umdrehen musst und eine Sekunde lang deinen Bezugspunkt verlierst!“ „Ganz genau“, sagte der Artist.

In 10 Tagen ist Weihnachten – nicht aus den Augen lassen!

Unser Vater, bringe zur Ruhe, was uns durch den Kopf geht, segne unseren Schlaf, lass uns gestärkt erwachen!

Abendsegen| Sonntag, 6. Dezember

Zweite Welle – welch seltsame Beschreibung unserer beängstigenden Zeit, zweite Welle. Als die Pandemie über uns kam, wussten wir nicht, was uns geschah, mussten uns an Regeln gewöhnen, die wir nie für möglich gehalten hätten und hofften, das ginge bald vorüber. Aber jetzt ist die zweite Welle gekommen und verbreitet neue Angst und Ungeduld. Es ist schwer, sich daran zu gewöhnen, dass unser Leben so lang von Corona bestimmt ist. Bei manchen liegen die Nerven blank, der Umgangston wird rauer. Mir bleibt nur zu sagen:

Gott, sieh uns an! Wir vermissen unsere Unbefangenheit und die Nähe zu anderen Menschen, was uns selbstverständlich schien. Lass uns das Gute sehen, das wir erleben, lass uns nicht blind werden für das Leid anderer Menschen, das oft größer ist als unseres, lass uns nicht hinnehmen, dass die Zerstörung der Schöpfung immer weitergeht.

Gott, befrei die Welt von den Schrecken der Pandemie, stärke unseren Zusammenhalt! Möge dein Geist uns klug machen, mit unserer Arbeit, unserem Verstand, der modernen Medizin und aller unserer Technik das Virus zurückzudrängen, Sorge, Krankheit und dem frühen Tod zu widerstehen!

Gott über allem Chaos, schenke uns deinen Segen, rette und bewahre uns in dieser Nacht. Lass uns guten Mutes erwachen.

Abendsegen | Sonnabend, 5. Dezember

Yehudi Menuhin, der große Musiker, hat Lebenserinnerungen geschrieben: „Unvollendete Reise“ An einer Stelle schreibt er über die Interpretation eines Musikstückes: „Im Idealfalle würde man eine Passage ganz gleichmäßig spielen und gerade so viel Unregelmäßigkeit zulassen, dass ein Element der Lebendigkeit spürbar bleibt.“

Für Menuhin ist diese kleine Unregelmäßigkeit, diese, wie er sagt, Lebendigkeit „La part de Dieu – Gottes Teil.“ Er sagt, das sei es, wovon jede „Aufführung fast unbewusst bestimmt sei.“

Ich finde das wunderbar: Die Noten so exakt wie möglich – und dann dieser kleine Spielraum zwischen den Noten, den wir nicht in der Hand haben, der aber alles bewegt und belebt: Gottes Teil.

Auch das genaue Gegenteil zu Menuhins Stücken, die Luzerner Guggenmusik zur Fastnacht, spielt mit Getöse immer scharf daneben, genial präzise vorbei, exakt falsch, verpasst kleinste Notenteile, – wunderbar, diese Teile Gottes, unerwartet, genial widerständig, Grenzen sprengend, wie der sich öffnende Himmel bei Bethlehem…

Unser Vater in den Himmeln, segne uns in unserem angestrengten Leben mit jenem kleinen Teil von überraschender Lebendigkeit, der unsere Tag-und Nachtzeit immer köstlich macht

Abendsegen | Freitag, 4. Dezember

Der Schabbatabend ist in die jüdischen Familien eingezogen. Psalmen werden gesprochen, Lieder gesungen, die das Leben preisen und alles beklagen, was ihm angetan wird. Gebete gesprochen wie Formulare, in die man den eigenen Namen eintragen kann, den Schmerz und das Glück, die Sorge um die Welt und die Kinder.
Der 12. Psalm, frei nach dem hebräischen Versmaß übersetzt von Lorenz Wilkens:

Hilf, Herr! Denn niemand ist dir noch ergeben.
Verloren ist die Treue bei den Menschen.
Unter Nachbarn herrscht die Lüge in glatter Sprache.
Sie reden als hätten sie zwei Herzen.
Sie sagen : unsre Zunge macht uns stark!
Man tut Gewalt an den Gebeugten; und die Armen – ach, sie müssen seufzen!
Darum spricht der Herr: Jetzt steh ich auf, dem Bedrängten, den sie anschnauben, bring ich Hilfe!
Die Worte Gottes sind so klar wie Silber, das im Schmelztiegel geläutert
und siebenmal vom Sand gereinigt wurde.
Oh Herr, du wirst uns rein halten für alle Zeit!

Amen – So sei es, so werde es