Meditation zu dem Londoner Terroranschlag

Das Wort RBB 88,8 7.55 10. Juli

Das Recht soll wie Wasser fließen und die Gerechtigkeit wie ein Sturzbach

Amos 5,24

In diesen Tagen sind die Bilder wieder übermächtig. Die Bilder aus London gewinnen Macht über uns. Die Bilder überwältigen uns. Da ist die Frau mit dem weißen Tuch vor dem Gesicht, weil es wohl blutüberströmt ist. Da ist aber auch der Arm des Helfers, der sie ins Sichere geleitet; eindringliche, erschütternde Bilder, zerborstene Busse, blutende Menschen, Gesichter unter Schock – die alten Griechen ließen die schrecklichsten Szenen außerhalb der Szene spielen, so meint es unser Fremdwort „obszön“, das, was außerhalb der Szene gehört. Auch das hat der heutige Terror überboten, Er schlägt ohne jede Vorwarnung tödlich in große Menschenmengen, er nimmt Flugzeuge als Waffen, er attackiert Bahnhöfe – er will die Adern, den Blutkreislauf der modernen Beschleunigung zerschneiden, er will unsere Beweglichkeit lahm legen, er will den Kollaps, den Stillstand, den Tod unserer Mobilität – das waren die Zeichen von New York, Tokio, Madrid, Moskau, London und…?
Und wir? Was geschieht mit uns, wenn wir die Bilder sehen, die Sirenen hören, die geschockten Gesichter wahrnehmen?

Wenn wir uns versehentlich mit einem Messer schneiden, vergehen einige Augenblicke bis zu dem Anblick der kleinen Wunde die Empfindung des Schmerzes dazu tritt. Das Echo der Wunde ist noch nicht zu vernehmen, wir sehen aber schon den Schnitt und warten, wann der Schmerz fühlbar und anhaltend eintritt. Genau in dieser Zwischenzeit scheinen wir zu stehen. Und was tun wir?

Dem Volk Israel wird in der Bibel ständig eingeschärft, es solle seine Befreiung aus dem Terror der Sklaverei, aus dem Terror der Vernichtung durch Arbeit nie vergessen, dies Volk hat ebenso hartnäckig zurückgefragt: Was war denn das Schlimmste an diesem Terror? Die Antwort lautet seit je her: Das Schlimmste an diesem Terror war, dass wir uns an ihn gewöhnt hatten. Gewöhnt wie an die tägliche Gewalt gegen Fremde und Kinder, gewöhnt wie an die täglichen Todesopferzahlen im Irak, an die ins Unvorstellbare wachsenden Todeszahlen in den Hungergebieten Afrikas. Deshalb schärft der Prophet Amos seinem Volk und uns ein: Gewöhnt euch nicht ans Unrecht, nein: „Das Recht soll wie Wasser fließen und die Gerechtigkeit wie ein Sturzbach“.

Der jüdische Schriftgelehrte und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel hat sich als Kind darüber gewundert, dass Gott in den Zehn Geboten von so einfachen Dingen sprach wie Nicht-Lügen und Nicht-Stehlen. Er hatte die Offenbarung religiöser Geheimnisse erwartet, Sein Lehrer antwortete ihm: „Ich glaube, Gott wollte uns damit sagen: Ich kann mich um meine eigenen Gedanken, Bilder und Träume kümmern – kümmere du dich um meine Schöpfung!“ So ernst nehmen Gott und sein Prophet Amos den Menschen: Dass er fähig ist zu handeln und zu verantworten; er ist kein von allen Winden herumgewirbeltes Ding. Er kann Gut von Böse unterscheiden, mit Gott das Leben wärmen, das Recht lieben und der Güte dienen.
Das Wasser des Rechts kühlt und tröstet, es kann stürmisch werden, es kann uns mitreißen aus unserer milden Apathie und bekömmlichen Gewöhnung an die Welt, wie sie ist.

Eine christliche Gruppe in Schottland, in einiger Nähe zum Tagungsort des G8-Gipfels, hat zu ihrem Wahrzeichen, ihrem Logo, die Wildgans gewählt. Und die Leute von der schottischen Insel Iona sagen von ihrer Wildgans: „Sie ist niemals gezähmt, immer unterwegs, eine Inspiration für die unruhigen Geister“. Um diesen Geist der Wildgans, um dieses Strömen des Rechtes wie Wasser gegen alle Gewöhnung an die Gewalt bitten wir.

Haben die Terroristen gewonnen? „Kümmern Sie sich nicht um mich“, sagte eine Frau, die den Londoner U-Bahnhof King’s Cross nach der Explosion verließ, „schauen Sie, was mit den anderen ist“. So lange Menschen dies sagen, haben die Terroristen nicht gewonnen.