„Komm mit“, flüstert die Frau auf der Straße. Sie kann einiges bieten, und sie wird einiges kosten. Verführungen solcher Art appellieren nicht nur an unsere Triebhaftigkeit und Sehnsucht, sie verlangen auch eine angemessene Kalkulation. Sophia heißt die Dame, man darf sie auch mit „Frau Weisheit“ ansprechen. Sie steht in der Nähe des Marktes und lockt die jungen Männer: „Ihr Männer, ich rufe euch zu mir!“. Die Herkunft dieser Frau ist erstaunlich: „Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, schon im Anfang, ehe die Erde war!“ Ihre Verlockungen sind in jeder Hinsicht viel versprechend: „Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Sie hat das Vieh geschlachtet, den Wein gemischt, den Tisch bereitet und nun sendet sie ihre Mitarbeiterinnen aus mit vielen Einladungen: Kommt, esset von meinem Brot, trinkt von dem Wein, verlasst eure Unwissenheit und geht auf den Weg des Wissens, so werdet ihr leben!“
Monat: April 2006
Worte für den Tag | Worte auf den Weg | Freitag 21. 4. 2006
Die Erzählungen im Neuen Testament, die von der Begegnung der Jüngerinnen und Jünger mit dem auferstandenen Jesus berichten, spielen entweder in der Abenddämmerung, wenn rasch die Nacht hereinfällt, oder im Morgengrauen, wo man Tag und Nacht noch nicht genau unterscheiden kann – sie sind nicht ganz deutlich, sie bringen Tag und Nacht zusammen, Stunden, in denen man seinen Augen nicht immer trauen kann, in denen auch der Zweifel berechtigt ist. Beweisbar, fotografierbar, mit Händen zu greifen ist diese Wahrnehmung nicht. Keine Erzählung verdrängt die Bezweiflung – „einige jedoch zweifelten“, heißt es am Ende des Matthäusevangeliums. Die vor wenigen Jahren verstorbene Theologin Dorothee Sölle wurde in Amerika oft gefragt: „Are you saved?“ – „bist du gerettet?“. Sie antwortete: „God knows better than you and me!“ – „Gott weiß das besser als du und ich!“
Worte für den Tag | Worte auf den Weg | Donnerstag, 20. 4. 2006
„Von der Auferstehung Christi her kann ein neuer reinigender Wind in die gegenwärtige Welt wehen“, das schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis seinem Freund zum Osterfest 1944. Er sprach von der „Vergötzung des Todes“ in seiner Zeit, von „gleichgültiger Lebensverachtung“ und der Sucht, „alles zu erraffen und alles wegzuwerfen“. Je deutlicher die nationalsozialistische Herrschaft uns in den Blick kommt, desto genauer sehen wir die Spur der Vernichtung, die dieses „tausendjährige Reich“ in nur 12 Jahren gelegt hat, Jahren, in denen „das Leben nichts galt“, während die Propaganda „das Leben“ mit Lichtzauber und Mutterkreuz in den germanischen Himmel hob.
Worte für den Tag | Worte auf den Weg | Mittwoch 19. April 2006
„Der Auferstehungsglaube ist nicht die Lösung des Todesproblems“ – eine hellsichtige Formulierung des Theologen Dietrich Bonhoeffer, die er während seiner Haft notierte. Es ist nicht das Todesproblem, das uns gefangen nimmt, sondern ein Netz von vielerlei schwer fassbaren Todeserfahrungen, die auch nach diesem Auferstehungsfest Ostern uns begleiten. Es sind Abschiede, die uns tief treffen, Abschiede von geliebten Menschen, von vertrauten Orten, von gern geleisteter Arbeit. Abschied zu nehmen von dem, was wir lieben, ist nie leicht. Diese Erfahrungen wirken wie schlecht verheilte Verletzungen, sie schmerzen , sie werfen lange Schatten auf jeden Tag unseres Lebens. Die Bibel hat dafür das Wort „Todesschatten“. Das ist nicht nur Resignation, es ist manchmal, als ob die Flamme der Liebe allmählich erlischt. Fachleute nennen diese Erfahrung Depression, für die Betroffenen aber ist es schwer, einen Namen dafür zu finden.
Worte für den Tag | Worte auf den Weg | Dienstag 18.4. 2006
Mitten in Paris steht ein großes Haus. Es ist die öffentliche Informationsbibliothek der Stadt. Man benötigt weder Ausweis noch Eintrittskarte, um Einlass in die menschenfreundlichste, abwechslungs- reichste, freieste Bibliothek der Welt zu erhalten. Auf die Besucher – am Tag sind es im Durchschnitt 6300 – warten mehr als 350 000 Bücher, 2500 Zeitschriften und 150 Tageszeitungen aus der ganzen Welt. Gut gelaunt verspricht die Bibliothek, hier fände man nicht „alles über etwas bestimmtes“, sondern „etwas über alles“. Eine wunderbare, riesige, freiheitliche – Arche! Arche ist in der Bibel jener große Kasten, jenes schwimmende blockhausartige Wohnfloß, in das Noah mit seiner Familie und Vertretern aller Lebewesen sich rettete, als die Wasser der vernichtenden Sintflut zu steigen begannen.