„Ehrfurcht vor dem Leben“

Eine Erinnerung an Albert Schweitzer

I.
Ist ein Sonntagmorgen im Februar nicht eine gute Gelegenheit, sich an den Sommer zu erinnern, sich auf den Sommer zu freuen? Gewiss, der Schnee ist auch etwas Wunderbares: Man wacht auf am Morgen und die weiße Welt leuchtet einem entgegen, weiß und rein, wie neugeworden. Eine frisch verschneite Landschaft kann so wohltuend rein sein und eigenartig still.

Und doch: An einem Bach zu sitzen, der unbekümmert und unermüdlich dahinplaudert… Ein Bach ist voller Leben, ein Bach… fast ein Zauberwort, das Erinnerungen weckt an Zeiten schöner Rast, an einen Sommer im Wald. Und man kniete sich hin und trank aus der hohlen Hand vom Bach – eine Labsal, so frisch war das Wasser! Durst haben und aus einer Quelle trinken, das geht tief, das berührt die Seele – dafür tauschen wir doch kein Getränk! Klebrig süß samt Kohlensäure! Wenn das Wasser so lebendig aus dem Fels heraussprudelt, über die Steine gerannt kommt, keine Tiere, kein Mensch konnten es trüben! Wann haben wir zum letzten Mal einen solchen Genuß gespürt? Im vorigen Sommer stand ich am Fuß der großen Elbquellenwiese im Riesengebirge – eiskalt sprudelten die Wasser und niemand kann bis heute sagen, woher sie kommen.

An einem Bach sitzen, an einem Strom stehen und sehen, wie die Wassermassen dahinfließen – das gehört zu unserem Leben. Auch am Meer zu stehen! Können wir vergessen, wie es war, als wir zum ersten Mal das Meer sahen, das Wasser bis zum Horizont und das Spiel der Farben: Grau, Blau und Grün – und Rot, wenn die Sonne sich senkte. Und wie es riechen kann am Meer von den Pflanzen, den Tieren und dem Leben, das aus den salzigen Tiefen ans Ufer gespült wird. Da bauten die Kinder eine Burg mit ausgesuchten Muscheln und Steinen, aber der Wellensaum stieß höher und höher und überschwemmte die Burg, so dass sie einstürzte. Und die Kinder gingen zurück und sahen fasziniert und erschrocken zugleich, mit welcher Lebenskraft die Wellen herankamen. Respekt stand auf ihren Gesichtern, Aufmerksamkeit und Verwunderung.

II.
Es hat im vergangenen Jahrhundert einen Menschen gegeben, der dies alles – an einem Bach sitzen, dem Meer gegenüberstehen, dem fließenden Strom zusehen, einem Wald zuhören – der dies alles mit besonderer Aufmerksamkeit erlebt hat. Er hat diese Aufmerksamkeit „Ehrfurcht“ genannt. Er hat von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gesprochen, sein Name ist Albert Schweitzer. Am 14. Januar 1875 wurde er geboren, also vor 125 Jahren.
Ich habe deshalb so viele Beispiele vom Wasser erzählt, weil Albert Schweitzer im Jahre 1915 in Afrika während einer Kahnfahrt auf dem großen zentralafrikanischen Strom Ogowe die entscheidende Erfahrung seines Lebens machte. Albert Schweitzer erinnerte sich:

„Monatelang lebte ich in einer stetigen Aufregung dahin. Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war.
In diesem Zustand musste ich eine längere Fahrt auf dem Fluss unternehmen. Als einzige Fahrgelegenheit fand ich einen kleinen Dampfer, der einen überladenen Schleppkahn mit sich führte. Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken- es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahns…Am Abend des dritten Tages…mussten wir an einer Insel in dem über einen Kilometer breiten Fluss entlangfahren. Auf einer Sandbank zur Linken wanderten vier Nilpferde mit ihren Jungen in derselben Richtung wie wir. Da kam ich in meiner Müdigkeit und großen Verzagtheit plötzlich auf das Wort: „Ehrfurcht vor dem Leben“, das ich, soviel ich weiß, nie gehört und nie gelesen hatte. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander verbunden sind!

Was ist Ehrfurcht vor dem Leben, und wie entsteht sie in uns?
Die unmittelbarste Tatsache des Bewußtseins des Menschen lautet: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“. Zugleich erlebt der Mensch die Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Stand bringen“ Als böse gilt ihm: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben begreift also alles in sich, was als Liebe, Hingebung, Mitleiden, Mitfreude und Mitstreben bezeichnet werden kann“.

I.
Zeigt man heute älteren Schulkindern ein Bild von Albert Schweitzer, sagen sie sofort: „Albert Einstein!“ Und das ist nicht einmal so falsch, denn die beiden verbindet viel über ihren gemeinsamen Vornamen, ihren buschig weißen Haarschopf und ihre gewisse lässig-nachlässige Altherrenkleidung hinaus: Sie gehörten zu den begabtesten Menschen des Jahrhunderts, sie liebten die Musik über alles, sie engagierten sich wie kaum jemand so früh und so leidenschaftlich gegen die drohende Vernichtung allen Lebens durch die atomare Aufrüstung. Wie Martin Luther King,und Mahatma Gandhi wurden sie zu Vorbildern der skeptischen, aber zum Idealismus entschlossenen Generation der Nachkriegszeit. Ihre Porträts waren präsent, fast waren sie Popstars. Als ich zum ersten Mal wählen durfte, wählte ich die Partei mit dem Bild Albert Schweitzers – vor einem drohenden Atompilz. Dies Bild des edlen alten Mannes, des „guten Menschen von Lambarene“ mit Schnauzbart und Tropenhelm, zu dem der „Urwalddoktor“ in den orientierungslosen Nachkriegsjahren stilisiert worden war – war harmlos und verehrungswürdig; man wurde auch bald seiner müde.

II.
Aber es war kein edler alter Mann, gutmütiger Tierfreund und sanfter Held deutscher Bürgerkinder, sondern ein radikaler Intellektueller, ein zorniger Christ, ein „Partisan der Humanität“, der die Aufrüstung der NATO mit atomaren Raketen 1959 als das „unvorstellbar Sinnlose“ brandmarkte, zur weltweiten Abrüstung aufrief, Europa in eine atomwaffenfreie Zone verwandelt sehen wollte. Mit Spott geißelte er jeden Untertanengeist und zitierte grimmig die Bemerkung seines Freundes Einstein: „Wenn einer mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann, so gehört er zum Herdenwesen und hat sein großes Gehirn nur aus einem Irrtum bekommen, da für ihn das Rückenmark schon völlig genügt hätte“.

Zornig spricht er 1961 von „verblödeten Staatsoberhäuptern, die mit der Atombombe spielen“. Für Albert Schweitzer ist die Anwesenheit der Atombombe ein Zeichen der Abwesenheit von Humanität.
Da dampfen im Herbst 1962 amerikanische und sowjetische Kriegsschiffe vor der Insel Kuba aufeinander zu und der Präsident der USA erhält einen Brief von Albert Schweitzer mit der Anschrift: Herrn John F. Kennedy. Wir können heute den Brief sehen, mit zierlicher Schrift, vom Schreibkrampf leicht behindert, ein paar Korrekturen – der Schreiber war 87 Jahre alt. Und schrieb: „Entscheidungen in völkerentzweienden Fragen können nicht mehr Kriegen überlassen werden“. Und auch er hat damit bewirkt, dass Kennedy Vertrauen als politische Qualität einsetzte und von Gewalt absah.

I.
Über Albert Schweitzer – mit Albert Einstein der vielleicht universalste Gelehrte des 2o. Jahrhunderts: Musikwissenschaftler, Organist, Arzt, Philosoph und vor allem ein vernünftiger Theologe und Pfarrer – über ihn also gibt es viele Einträge im Klassenbuch seiner Grundschule im elsässischen Günsbach. Am häufigsten steht da: „Schweitzer lacht!“. Und dieser Mangel an Respekt vor aufgeblasenen Autoritäten hat ihm zeitlebens die Klarheit im Urteil bewahrt und andererseits die Liebe zum Leben jeder Kreatur, die Ehrfurcht vor dem Leben. Er kannte keinen Zwiespalt zwischen Denken und Handeln. Die Ehrfurcht vor dem Leben war für ihn so selbstverständlich, dass er, wenn er einen Pfahl in die Erde rammte, zunächst sorgfältig alles Getier aus dem Loch, das er gegraben hatte, entfernte. Las oder schrieb er in Sommernächten bei Lampenschein, so hielt er die Fenster geschlossen und atmete lieber die stickige Luft, als dass er Insekt um Insekt mit versengten Flügeln auf seinen Tisch fallen sah. War er gut gelaunt, sang er seinen beiden Wildschweinen Abendlieder vor, dann setzte er sich an seine Friedensaufrufe mit Pandit Nehru, Dag Hammarskjöld, Erich Fromm, Martin Buber und Martin Niemöller. Dass wir nicht töten und nicht quälen sollen, ist für ihn, wie er sagte, „denknotwendig“. Für ihn galt: „Ich lebe, das heißt: Ich liebe. Liebe ich nicht, lebe ich nicht“.
Der Verlust an Ehrfurcht vor dem Leben, die Ausbeutung der Natur haben die Menschheit an ihre Grenze gebracht. Für Schweitzer kann die Zeit des Friedens in unserer Welt nur anbrechen, wenn „ die Gesinnung der Ehrfurcht vor dem Leben zur Macht kommt. Alle diplomatische äußerliche Bemühung
um den Frieden bleibt sonst erfolglos“.

II.
Mit den Gaben, die ihm verliehen waren, hat er in der Zeit, die ihm gegeben war, versucht, vor Gott und den Menschen das Rechte zu tun. Dabei blieb er guter Dinge, voll Liebe und Leidenschaft für das Mögliche, voll Witz und Schärfe. Als die Nazis ihn zu Konzerten und Vorträgen nach Deutschland einluden – es war Goebbels Idee – stand unter dem Brief „Mit deutschem Gruß“. Er unterzeichnete die prompte Ablehnung „mit zentralafrikanischem Gruß“. Auf Unfug reagierte er stets heftig. Man darf bei Albert Schweitzer Güte nicht mit Gutmütigkeit verwechseln.

Woher nahm er seinen Freimut? In einem Brief aus Lambarene schrieb er 1957: „Ehrfurcht vor dem Leben hebt uns über alle Erkenntnis der Dinge hinaus und lässt uns zum Baum werden, der vor der Dürre bewahrt wird, weil er an Wasserbächen gepflanzt ist. Alle lebendige Frömmigkeit fließt aus Ehrfurcht vor dem Leben…in der Ehrfurcht vor dem Leben liegt die Frömmigkeit in ihrer elementarsten und tiefsten Fassung vor…

Worauf es heute in der ganzen Welt ankommt, ist, dass wir alle erkennen, dass Gott die Liebe ist und dass er von uns verlangt, dass wir in der Liebe wandeln sollen. Das wahre Wissen von Gott besteht darin, dass wir erleben, dass er den Geist der Liebe in unser Herz gelegt hat und dass wir uns von diesem Geiste führen lassen und damit Gottes Kinder werden. Und nicht nur mit den Menschen, sondern mit allen Geschöpfen sollen wir in Gütigkeit und Mitleid verfahren“.

I.
Als Albert Schweitzer 1954 in Oslo den Friedensnobelpreis erhielt, sangen
30 000 Menschen vor dem Osloer Rathaus einen Choral. Schweitzer, auf dem Balkon des Osloer Rathauses, knurrte: „Da feiern sie einen struppigen alten Mann“. Dieser struppige alte Mann hatte seine Arbeit im 19. Jahrhundert begonnen, sie im 2o. Jahrhundert mit Leidenschaft entfaltet und uns im 21. Jahrhundert dazu herausgefordert, sein Denken in unsere Entscheidungen aufzunehmen. Es ist ein gutes Zeichen, dass in unserem Land rund 2oo Schulen seinen Namen tragen. Es könnten noch mehr werden.