Worte für den Tag | Freitag, 9. Juni 2021

Es war in einer Videokonferenz. Viele müssen sich mit diesem Format notgedrungen anfreunden. Ich erfahre diese Kommunikation als mühsam. Ich starre auf Einzelbilder vor mir, höre Einzelne sprechen, vieles geht verloren, hier ein Räuspern, da die hin und her schießenden Blicke zwischen anderen, das Atemholen zu einer Antwort. Ich selbst muss viel disziplinierter sprechen, stärker moderieren – Anstrengungen, die mich rascher ermüden. Eine Kollegin sagte: „Nun überleg mal, dass Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen das jeden Tag leisten müssen. Du machst ein „Praktikum in Behinderung’“. Ich sehe Menschen mit Beeinträchtigungen jetzt anders, sie müssen ein Vielfaches mehr leisten als andere ohne Sinnesbeeinträchtigungen.

Freunde erleben das auch, verarbeiten es unterschiedlich, anders. Einer schrieb mir eine sehr humorvolle Skizze:

Kürzlich habe ich mich in einer Videoaufnahme gesehen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob da nicht ein Fehler passiert ist. Dieser Mann kam mir zwar von fern bekannt vor, eigentlich war er mir vor allem fremd. So bewege ich mich doch nicht. So rede ich auch nicht. So blicke ich nicht in die Welt. Ich kann mich aber an die Aufnahme erinnern. Wahrscheinlich bin ich das also doch.
Plötzlich bin ich erschrocken: Alle meine Freunde und Kollegen, die Familie, die meinen gar nicht mich, sondern diesen da. Die meinen denen, wenn sie über mich reden. Und die Frau, mit der ich über 50 Jahre verheiratet bin, liebt einen Fremden. Den! Dann kennt sie mich also gar nicht. Sie und die anderen wissen gar nicht, wer ich bin… Niemand von allen weiß, wie es sich anfühlt, ich zu sein. Meine Arbeitsstelle hat dann auch der andere erhalten. Wenn herauskommt, wer ich wirklich bin, werde ich womöglich entlassen. Gibt’s denn jemand, der mich wirklich kennt`?
In meiner wachsenden Not habe ich zur Bibel gegriffen, es heißt ja immer, das solle man tun. Und wirklich, da fand ich den Satz, der war schon vorher rot angestrichen:“ Der Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an.“ Wenigstens einer, der mich kennt. Und dann bin ich noch über einen Satz gestolpert von einem Yogi oder so: „Der andere bist du.“
Ich weiß nicht…