Worte für den Tag | Worte auf den Weg | Sonnabend, 22. 4. 2006

„Komm mit“, flüstert die Frau auf der Straße. Sie kann einiges bieten, und sie wird einiges kosten. Verführungen solcher Art appellieren nicht nur an unsere Triebhaftigkeit und Sehnsucht, sie verlangen auch eine angemessene Kalkulation. Sophia heißt die Dame, man darf sie auch mit „Frau Weisheit“ ansprechen. Sie steht in der Nähe des Marktes und lockt die jungen Männer: „Ihr Männer, ich rufe euch zu mir!“. Die Herkunft dieser Frau ist erstaunlich: „Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, schon im Anfang, ehe die Erde war!“ Ihre Verlockungen sind in jeder Hinsicht viel versprechend: „Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Sie hat das Vieh geschlachtet, den Wein gemischt, den Tisch bereitet und nun sendet sie ihre Mitarbeiterinnen aus mit vielen Einladungen: Kommt, esset von meinem Brot, trinkt von dem Wein, verlasst eure Unwissenheit und geht auf den Weg des Wissens, so werdet ihr leben!“

Frau Weisheit, Gottes anmutige Tochter, wirbt um die Menschen, will sie zur Kunst des Lebens verführen. Bemerkenswert – die Bibel hat es sonst nicht so mit Verführungen. Sie warnt energisch: Menschen werden zur Sünde verführt, zum Abfall von Gott, zur Hurerei, zum Bösen, zur Ungerechtigkeit. Solange wir leben, sind wir von Verführungen umgeben, von Menschen und Medien, Worten und Werbesignalen, Parteien und Produkte – wir werden überflutet von „guten Botschaften“, die uns ein gutes Leben versprechen. In einer Zeit, in der man die Anstößigkeit des Glaubens gern versteckt, muss auch von der Verführungskraft der Bibel geredet werden, von ihren schroffen Behauptungen, den unerhörten Ansprüchen, von denen man nicht genau sagen, ist das noch Verführung oder schon Größenwahn, z. B. „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nie hungern, wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben“, oder noch steiler: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt, und wer lebt und an mich glaubt, der wird niemals sterben“. Der so spricht, Jesus von Nazareth im Evangelium des Johannes, lädt nicht zu Diskussionen ein, sondern macht ein unglaubliches Versprechen: „Wenn euch der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei“. Auf die Verführungskraft schroffer Versprechen und leiblicher Erfahrungen haben sich seit 2000 Jahren Menschen eingelassen und sich zur Kunst des Lebens verführen lassen. Da kann man nur Amen, Amen zu sagen, das heißt: Ja, ja, so ist es, so soll es geschehen!