150 Jahre Potsdam-Bornstedt

Predigt im Gedenkgottesdienst
anlässlich des 150jährigen Bestehen der Kirche in Bornstedt
am 3. September 2006, 10.00 Uhr

Gemeinde Jesu Christi in Bornstedt am 12. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 2006 – die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen!
In ausgezeichneter Weise sei sie mit Gottfried Kunzendorf, der hier heute stehen müsste und es nicht kann, weil sein Leib und seine Seele in herzbewegendem Schmerz geschwächt und geschlagen sind. Dies wären seine Stunde und sein Wort – das Wort eines Menschen, der in der Zeit, die ihm bis heute gegeben war und mit den Gaben, die ihm verliehen sind, nur eins gewollt und getan hat, vor Gott und den Menschen das Rechte zu tun – als Bürger Bornstedts, Pfarrer der Gemeinde und Hüter des Friedhofs. Respektvolle Verbeugung, liebevolle Verneigung hin zum Krankenhaus, wo er jetzt seine Gedanken zu uns wendet, wenn er es vermag…

Die Gedanken eines anderen rechtschaffenen bibelerfüllten Menschen können uns nun auf den Weg des Denkens und Gedenkens führen. Wir geben ihm das Wort:
„Die Wahrheit braucht keine Dome. Das Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm. Die Evangelische Kirche braucht auch keine Dome. Und wenig Repräsentanz. Sie hat keinen Teil an Triumphen von gestern. Bescheidenheit steht ihr an. Und Knappheit. So wie man einst in Preußen knapp und bescheiden war. Das ist lange her.“

Mit diesen Worten eröffnete am 6. Juni 1993 Peter Beier, der rheinische Präses und Ratsvorsitzende der Kirche der Union, die Wiederingebrauchnahme, welch ein Verlegenheitswortungetüm, des Berliner Doms. Ihm war nicht wohl auf der Domkanzel.

„Ich weiß schon, welcher Widerspruch auszuhalten ist zwischen den Bauwerken und der Realität in Kirche und Gesellschaft. Aber zu fürchten ist das Dröhnen eines ganz anderen Widerspruchs, des Widerspruchs nämlich, den Gott, der Herr, selber einlegt gegen unsere Oberflächlichkeit, gegen die Gleichgültigkeit derer, denen alles gleich-gültig erscheint, gegen eine eigenschaftslose Kirche, die sich dem Trend des zentraleuropäischen Mittelmaßes anbequemt. „Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt“, soll Bismarck gesagt haben. Es muss aber heißen: Wir Deutschen fürchten so ziemlich alles auf der Welt. Nur nicht Gott, den Herrn. Der aber nimmt das Wort. Unabhängig davon, ob wir hören oder nicht, sehen oder die Augen verschließen. So thront der Dom in neuem Glanz am Platz alter Zwietracht. Noch schwimmt sein Bild im Kupferbraun der Spiegelgläser des Palastes der Republik. Wir sitzen in festlicher gottesdienstlicher Versammlung und gleichwohl in misslicher Lage.“

Peter Beier, ein begnadeter, prophetischer Prediger, hatte einen scharfen Klagetext aus dem Jesajabuch gewählt, aus dem 8. Kapitel, von der Stadt, die wüst daliegen wird. Er sagte gegen Ende der Predigt: „’Das konnte ja nicht gut gehen’, jemand hinter mir flüsterte diesen Satz, als ich vor vielen Jahren in der Kaiserloge dieses Domes stand. Der Dom war Baustelle, im Staub ergraut, unter verregnetem Licht. Das konnte nicht gut gehen: dieser Mensch im Talar auf den Stufen des Domes, die Hand zum Hitlergruß erhoben. Das konnte nicht gut gehen.“

Liebe Gemeinde, groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt. Berlin, Potsdam, Bornstedt – eine Landschaft der Erinnerungsräume, Brandenburg hat Orte mit starker Gedächtnis- und Bindungskraft; Gräber und Grabsteine gehören dazu, traumatische Orte wie Ravensbrück, Plötzensee und Sachsenhausen und Gedächtnisorte wider Willen wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

„Bornstedt, Kirche und Friedhof“ – märkischer Gedenkort preußischer Geschichte und des Widerstands haben Gottfried Kunzendorf und Manfred Richter vor 5 Jahren ihr Buch benannt. „Bornstedt, Kirche und Friedhof“ sind das, was die Franzosen einen „lieu de memoire“ nennen, einen Gedenkort. Die Verlagerung von einem Ort, an dem traditionelle Lebensformen praktiziert wurden, zu einem Ort, der nur noch die Spuren eines abgebrochenen oder zerstörten Lebenszusammenhanges festhält, nennt man mit einem französischen Wortspiel den Übergang von einem „milieu de memoire“ zu einem „lieu, einem Ort, de memoire“. Ein Gedenkort ist also das, was übrig bleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen zu können, muss die Geschichte erzählt werden, die zersprengten Fragmente wieder zusammen gesetzt werden – könnten nicht verpflichtende, beunruhigende, gefährliche Erinnerungen wieder sichtbar und hörbar werden? Ein Ort hält Erinnerungen nur dann fest, wenn Menschen auch Sorge dafür tragen.
„Bornstedt, Kirche und Friedhof“, ein Ort mit einer Aura, ein Generationenort mit Verwandtschaftsketten der Lebenden und Verstorbenen, ein Gedenkort der wiederhergestellten und tradierten Erzählung. Davon steht viel in den Kunzendorfs und Richters und anderen Büchern – lehrreich, impulsreich und ist in diesen Tagen vielfältig und gewissenhaft entfaltet worden.

An einen Menschen will ich erinnern, weil sie unvergesslich mit der Aura dieses Ortes verbunden ist – in ferner Entzogenheit wie unmittelbarer Nähe: Hier liegt der „Sermon“ des „Kaiserin Friedrich Memorial Service“ vom 5. August 2001, den Reverend Christopher Bowler von der St. Georges Anglican Church gehalten hat. Zum 100.Todestag von Victoria, „Vicky as she was known“, entwarf unser Freund Christopher ein warmherziges Porträt der erstaunlichen Frau, die bei Hofe so erstaunlich unbeliebt und ihrem Sohn, dem späteren Kaiser Wilhelm II, so bestürzend fremd blieb. Mich verblüffte Bowlers Spitze: „Während die preußischen Prinzessinnen noch klatschten und tratschten, las sie Darwin und Marx. Niemals zuvor hatten sie eine solche Frau gesehen.“. Er berichtet von Victorias Eifer in sozialen Fragen und sagt zu Victoria und Bornstedt: „Hier in Bornstedt erholte sie sich vom unerquicklichen Leben bei Hofe. Zunächst entdeckte sie Bornstedt zufällig, einen zugewachsenen Kirchhof, heruntergekommene Holzhütten, vernachlässigtes ländliches Leben. Den zerfallenen Gutshof verwandelten Friedrich und Victoria in eine Musterfarm. Sie inspirierten die vergessene Dorfgemeinschaft mit neuem Leben. Die Zeiten, die sie in Bornstedt verbrachte, fernab vom preußischen Hof, „were some of the happiest of their whole married life“, sagte Reverend Bowler. So wie sie die Erweiterung des Kirchengebäudes voranbrachte, so brachten sie und ihr Mann viele Initiativen voran, die der Zeit weit voraus waren und über die Frau Gundermann und Frau Noltenius so kenntnisreich erzählen können. Frustriert von den Auflagen des Hoflebens, klagte sie einem Bischof aus England, dass sie nie ihre Pläne die Armen Berlins zu besuchen und ihnen zu helfen, ausführen könne – es werde vom Hofe verboten. Sie war eine Grenzgängerin, sie mischte sich ein und, wenn es das gibt, war sie eine „Kaiserin Courage.“

Bornstedt, Kirche und Friedhof –
Hier wurde der Lebensanfang unter die große Geste der Taufe gestellt, hier wurde geschworen und der Bruch der Schwüre bereut, hier wurde das Glück gefeiert und die Niederlagen beweint, hier wurden die letzten Gebete gesprochen, hier haben die Wände Seufzer, Zweifel und Hoffnung gehört. Eine Kirche wird eine Kirche mit jedem Kind, das darin getauft ist, mit jedem Toten, der darin beweint wird, mit jedem Paar, das getraut wird, mit jedem Psalm, der gebetet wird, davon erzählen die Wände, die Fenster, der Altar, die Bögen, die Schwellen, das Kreuz und die Bilder. Alte Kirchen erzählen mehr, neue sind oft bis zum Gähnen geheimnislos. Aber wir leben doch von den Geheimnissen, den alten, fremden Bildern, den alten, fremden Worten. Fulbert Steffensky schließt seine Gedanken zu den Kirchen als den Orten der Besinnung und Ermutigung, wo man der Seele Raum geben kann, mit den Worten:
„Die Kirche ist der Ort der verfemten Begriffe und der ausgestoßenen Wörter: Gerechtigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Trost, Schutz des verfolgten Lebens, Sturz der Tyrannen. Und endlich ist die Kirche der Ort, an dem Name Gottes genannt wird. Wohin sonst sollen wir gehen, wenn wir verlassen sind?“

Es gibt die Verheißung von der „Hütte Gottes bei den Menschen“, sie steht am Ende, am Ziel, in der Vollendung, am Schluss und als Höhepunkt der Heiligen Schrift:
„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, vom Himmel herabsteigen.. Sie hatte sich geschmückt wie eine Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her sagen: Siehe, das Zelt Gottes, die Hütte des Herrn bei den Menschen!
So wird Gott unter ihnen wohnen und sie werden Gottes Völker sein und Gott selbst wird mit ihnen sein. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird nicht mehr sein., denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe ich mache alles neu!
Und eine Stimme spricht: Schreib! Denn diese Worte sind zu verlässig und wahr.“

Noch einige Male Atemholen und die Heilige Schrift ist mit der Offenbarung des Johannes zu ihrem Höhepunkt gekommen und spricht nicht weiter. Ein letztes „Ja, komm Herr Jesus, komm bald, Amen. Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!“
Ich mache alles neu! Das heißt: Die Hütte Gottes, sein Zelt wird bei uns sein. Das Zelt wandert mit uns auf dem Weg durch die Wüste dieser Welt. Gott wird bei seinem Volk wohnen. Die jetzt dürsten, werden trinken, die jetzt weinen werden lachen, die Letzten werden die Ersten sein – und wir wissen alle, wer die Letzten bei uns sind…
Die Bibel spricht von Visionen. Warum sollten wir keine Visionen haben?
Und ich sah einen neuen Himmel, denn der erste mit den Tieffliegern war verschwunden. Und ich sah eine neue Erde, ihre Wälder waren grün und ihre Nahrung nicht mehr vergiftet. Und ich sah die Hütte Gottes bei den Menschen und die Kinder der verschiedenen Völker spielten um sie herum. Die Väter spielen mit den Kindern, die Angst zu kurz zu kommen, ist verschwunden, ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde und das Zelt Gottes bei den Menschen. Wenn wir etwas von den armen Ländern lernen können, dann ist es Visionen zu haben. Visionen sind nicht überflüssig, wie eine neue Weltordnung will. Wir brauchen Visionen. Wir brauchen dieses alte Buch. Wir sehnen uns – in all unseren schönen alten Kirchen – doch leidenschaftlich nach der Hütte Gottes selbst. Mach uns durstig, Gott, nach deiner Gerechtigkeit. Mach uns hungrig nach deiner neuen Stadt. Gib uns das Ausstrecken nach deiner Schönheit und Lust zu deiner Wahrheit. Gib uns die Sehnsucht nach deinem Zelt, nach deiner Hütte, du König der Welt, nach deiner Basilika.
Amen.