Das Wort – Mittwoch, 22. August

Einer Heiligen, Elisabeth von Thüringen, wollen wir diese Morgengedanken widmen. Was sind „Heilige“? Es sind Menschen, deren Würde in ihrer Unbescheidenheit liegt. Sie sagen nicht nur, was man sagen kann; sie erhoffen sich nur, was man hoffen kann – sie greifen aus bis weit in das Land des Gelingens. Sie sind Menschen mit einer großen Sehnsucht. Bei den Heiligen der Bibel überschlagen sich die Bildern der Unmöglichkeiten: die Steppe wird blühen, die Tauben werden hören, die Stummen sprechen und so fort…
Die Sehnsucht entsteht, wo ein Mensch erkennt, dass er mehr braucht, als er hat. Vielleicht sind die Heiligen die Menschen, die glauben, ein Diesseitiger und ein Jenseitiger sein zu können, eine Heimat hier zu haben und eine Heimat im Himmel zu vermissen. Heinrich Böll, der katholische Erzähler vom Rhein – wer kennt ihn noch? – sagte einmal: „Der Mensch in seiner Sehnsucht ist ein Gottesbeweis“, und fuhr fort: „ und die Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben – dass wir auf der Erde nicht zuhause sind, nicht ganz zu Hause sind, dass wir noch woanders hingehören und von woanders kommen. Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, der sich nicht – jedenfalls zeitweise, stundenweise, tageweise oder auch nur augenblicksweise – klar darüber wird, dass er nicht ganz auf diese Erde gehört!“

Elisabeth von Thüringen ist ein solcher Mensch gewesen. Sie hätte vermutlich das sehr chice Wort „Spiritualität“ gar nicht verstanden. Aber was ist das auch, „Spiritualität“? Sagen wir einfach, es ist geformte Aufmerksamkeit. Ich möchte auf eine Legende von Elisabeth von Thüringen erzählen, die diese Aufmerksamkeit erschließen kann. Einmal wanderte sie nach Eisenach und sah mitten in einem Unwetter ein Kind auf einem Holzstoß sitzen, das in Lumpen gekleidet war und aus dessen Kopf zwei Augen sie anblickten, als ob die Not der ganzen Welt aus ihnen spräche. Sie beugte sich zu dem Kind und fragte: „Kind, wo ist deine Mutter?“ Die Legende erzählt weiter: „Da wuchs an dieser Stelle ein Kreuz empor, an dem mit ausgespannten Armen Christus hing und er hatte die Augen des Kindes.“

Was also ist eine spirituelle Erfahrung? Es ist die Erfahrung der Augen Christi in den Augen des Kindes. Es gibt keine Gotteserkenntnis an der Barmherzigkeit vorbei!

Spiritualität ist nicht nur Aufmerksamkeit, sie ist auch Selbstvergessenheit: Elisabeth nimmt nicht sich selbst wahr, sie nimmt die Augen Christi in den Augen des Kindes wahr. „Heilige“ sind nicht auf Erfahrung aus – sie erfahren; sie nicht erlebnisorientiert – sie erleben: die Augen Christi in den Augen des Kindes. „Heilige“ fragen sich: Wie lese ich die Schmerzen der Menschen und wie lasse ich mich von ihnen berühren – heute, in meinem Tag?