Nicht zu glauben! – Die Hand am Fenster…

Wer an langen Wintergrippe-Abenden Gelegenheit nimmt, wieder einmal in Tausendundeiner Nacht zu lesen, wird zur „Geschichte von Ibrahim Ibn al-Mahdi an den Kalifen al-Memum über das Mädchen, das er geheiratet hat“ gelangen. In der 346. Nacht geht der Erzähler durch die Straße und sieht am Fenster eines Hauses eine Frauenhand, nein, im Grunde nur die Hand und das Handgelenk. Er erkennt in ihr eine Schönheit, die ihn direkt anspricht. Er versteht sofort, dass er zu der Frau, deren Hand er gesehen hat, gelangen muss. Um zu ihr zu kommen, um die Liebe seines Lebens zu verwirklichen, ersinnt er tausend Listen, tausend Wege. Am Ende hält er in seinen Händen die Hand, die er von der Straße gesehen hat, genießt er die Entdeckung, dass der ganze Körper jener Hand, die ihn entzückt hat, würdig ist und heiratet die Unbekannte, die er ein Leben lang lieben wird…nicht zu glauben!

So denkt und lebt und liebt die Bibel auch: Das Hohelied ist getränkt von solcher Leibesspiritualität. Das Hohelied ist nicht an Formen, Aussehen und Ebenmaß interessiert, sondern an der unmittelbaren Wirkung: „Deine Augen sind Tauben“ meint nicht die Form, sondern den blitzschnellen verliebten Blick. Die Wirkung zählt, nicht die Form. Die Augen sind schön, weil sie Liebesbotschaften senden; das Haar, weil es wallt und vor Kraft strotzt, die Zähne, weil sie in scharfem Kontrast zu den roten Lippen stehen, der Hals wegen seiner stolzen Haltung, die Brüste der Frau wegen ihrer erfrischenden Bewegung: „Dein Haar ist wie eine Ziegenherde, die vom Gebirge herabstürmt“, kraftvoll, stürmisch und wild, „wie eine scharlachrote Kordel deine Lippen, wie ein Riss im Granatapfel ist dein Gaumen“ (Hoheslied 4, 2-3), das aufblitzende Entzücken, der unwiderstehliche Reiz sind anziehender als das edle Ebenmaß. Orientalisches Schönheitsideal und biblische Menschenkunde verhindern auf unglaublich starke Weise, sich von der Wirklichkeit theoretisch zu entfernen.

Mit Zärtlichkeit, Erotik und Leibessehnsucht haben die Schriften des Zweiten Testamentes mehr Mühe als das Erste. Innerhalb der Ehe wird Sexualität weder im alten Israel noch im Judentum problematisiert. Paulus hält angesichts des herandrängenden Reiches Gottes die Ehelosigkeit für die eigentlich bessere Lebensform. Die biblischen Traditionen beider Testamente sind vor allem bezüglich der Erotik etwas gespalten. Warum leistet die Theologie hier keine Erinnerungsarbeit? Warum regiert so oft das Unfrohe? Angesichts der stürmischen Liebesgunst der Frau, die Jesus sehr leiblich salbt (Markus 14,3-9), im Grunde „nicht zu glauben“!