angesagt – Alle Menschen. Alle.

Ich sagte in meinem Zittern: „Alle Menschen lügen“
Wochenpsalm 116,11

„Nachtherbergen für die Wegwunden“ waren die Psalmen für Nelly Sachs in einer Welt, die viele ihres Volkes in die „sinnreich erdachten Wohnungen des Todes“ trieb. Die Jüdin aus Tiergarten, Nobelpreisträgerin und (unbekannte?) Ehrenbürgerin Berlins, schrieb dies atemlos, zitternd und empört als Verfolgte und Gehetzte, späte Schwester von Jeremia und Hiob. „Alle Menschen lügen. Alle.“ nennt der Theologe und Schriftsteller Arnold Stadler seine Psalmenübertragungen, die viele Auflagen erreicht haben. Der Satz verschlägt einem den Atem. Aber die Psalmen sind Gebrauchstexte, und was für welche! Sie sind voller Leben, wirklich, nicht buchstäblich. Sie sind schrundig, haben Löcher, brechen ab, schießen hoch, ungefügig, herzzereißend, widersprüchlich, mit schnellem Atem, jubelnd und depressiv. Leider sind sie im Gesangbuch gedruckt, als traktierten sie ein Versmaß oder als könne man sie „im Wechsel“ lesen…Wer im Herzen aufgewühlt, dankbar oder deprimiert ist, spricht nicht „im Wechsel“, sondern schreit, jauchzt, flucht und schwärmt.

„Alle Menschen lügen. Alle.“ In panischer Angst ist der betenden Stimme dies aufgegangen: Falsche Zunge, zwiespältiges Herz, Windhauch, Trug, Unzuverlässigkeit – sie regieren unser Leben. So flieht diese Stimme vor „den Menschen“ zu Gott als dem letzten Verbündeten des Menschen, So flieht dieser Mensch zu Gott – Anwalt, Zeuge und Richter in seiner „Sache“, die aber sein Leben ist, sein Ein und Alles. „Alle Menschen lügen. Alle,“ – keine Feststellung, keine Definition, sondern der letzte Versuch, in der Sache des Menschen etwas zu erreichen beim Schöpfer und Grund des Lebens. Glatt, handlich oder empfindsam ist das nicht, sondern der absolut letzte Ausweg, den ersten und einzigen „Gesprächspartner“ wieder zu finden in einer einander anlügenden, trick- und trugreichen Welt.
Jesus (Mt 11,25f), Petrus (Apostelgeschichte 2,24) und häufig Paulus (2. Korintherbrief 4,13) nehmen den Psalm auf– sie haben gelernt, sich allein auf Gott zu konzentrieren. Das aber sagen sie nicht trotzig-privat, sondern öffentlich „in deiner Mitte, Jerusalem“, Berlin, London, Moskau… (19). Nur, wenn wir es so öffentlich sagen, besteht die Hoffnung, einmal dem Psalmbeter widersprechen zu können…