Wort zum Tage | Mittwoch, 15. Februar

Kirche und Kino, so wie wir es im Augenblick auf dem Fest der Filme, der 62. Berlinale erleben, haben viel gemeinsam, vor allem, dass sie in vielen Fällen Partei ergreifen. Der Jesusfilm des Italieners Pasolini, „Das erste Evangelium“, zeigt Jesus von Nazareth inmitten der Armen seiner Zeit. Die Bibel ist in der Frage von Armut und Reichtum nicht neutral, sie ist entschieden auf der Seite der Armen, nicht auf der Seite der Armut. Die Armen und die Armut dürfen nicht verkitscht werden: mit schöner Nüchternheit sagte Tewje, der Milchmann, im Musical „Anatevka“: „Ich weiß, Herr, dass es keine Schande ist, arm zu sein – aber eine besondere Ehre ist es auch nicht.“ In einer bürgerlichen Welt, die das Jesuskind im Stall geboren sein lässt, aber größten Wert darauf legt, dass es „in reinlichen Windeln“ lag, ist nahe bei der Lüge. Es gibt dreckige Armut, an der nichts „heilig“ und nichts „rein“ ist. Sie zu beseitigen ist Christenpflicht, nicht ihr einen Heiligenschein zu verpassen.

Im Film „Viridiana“ des spanischen Regisseurs Luis Bunuel gibt es eine Szene, die den religiösen Kitsch aufstört. Arme und Krüppel nehmen bei Abwesenheit der Herrschaft das Schloss in Besitz. Sie veranstalten ein Gelage und in einer Kameraeinstellung gruppieren sie sich am Bankett zu Leonardos „Abendmahl“. Wie schön: Die Armen feiern, laut und fröhlich, das Abendmahl. Ginge die Szene nicht weiter, wäre der Film vermutlich zum Dauerrenner in Seminaren für Sozialarbeiter geworden – aber sie geht weiter: Die Figuren aus dem Renaissancekunstwerk fressen und saufen weiter, das Gelage wird zum wüsten Spektakel, brutale Schlägereien, Vergewaltigung…
Die Armen sind keine besseren Menschen; es gibt Verhältnisse, die Menschen nicht nur die Lebensressourcen, sondern auch die Moral rauben. Es gehört zu den Privilegien der Reichen, auch noch anständig sein zu können. Mit biblischer Schärfe bildet Bunuel gegen allen religiösen Kitsch die Realität ab. „Es ist Gott, der den Elenden vor dem rettet, der die Übermacht hat, und den Armen vor dem, der ihn auszieht“, diesem Psalmvers (35,10) hätte Bunuel zugestimmt und gefragt, wer Gott dabei hilft…