Wenn Sie die Worte Filmfestspiele, Berlinale hören, werden Sie an die großen und kleinen Filme denken, mit denen Sie aufgewachsen sind; lustige gehören dazu wie die von Laurel & Hardy, Pat & Patachon, der Olsen-Bande und den Marx Brothers; ernste gehören dazu wie „Die zwölf Geschworenen“, „Panzerkreuzer Potemkin“ oder „Der Dritte Mann“, nach dem Roman von Graham Greene. Der englische Romanautor hat in das von ihm verfasste Drehbuch zur Verfilmung seines Buches eine Szene hineingeschrieben, die im Buch nicht vorkommt. Da ist der Journalist auf der Suche nach seinem verschwundenen Freund im Wien der Nachkriegszeit drauf gekommen, dass der – er wird von Orson Welles gespielt – mit gepanschtem Penicillin viel Geld verdient und viele Kinder getötet hat.
Auf dem Riesenrad im Prater kommt es zur Begegnung. Er hält ihm seine Untaten vor, und der Freund antwortet mit einem Vergleich. Der Moralist solle doch einmal an die Zeit der Borgias denken. Kein Verbrechen, das sie nicht verübt hätten! Aber – es war die Zeit der großen Renaissancekünstler und ihrer unsterblichen Werke! Dagegen die Schweiz! 600 Jahre Ruhe und Frieden – und was haben sie gebracht: die Kuckucksuhren!
Der dämonische Orson Welles zieht im Film den Schluss: Menschliche Kultur entsteht aus Gewalt, ist eine Folge des Brudermords am Beginn der Menschheit, denn heißt es schon: Kain erschlug Abel, wurde von Gott vertrieben, verließ sein Land und – wird der Erbauer einer Stadt! Wo wir das Ende der Kain-und-Abel-Geschichte wähnten, geht sie erst richtig los. Der Mörder wird Städtegründer, wird Ahnherr der Kultur- und Zivilisationsgeschichte. Und so geht das fort: Der Krieg ist der Vater aller Dinge, sagt die älteste griechische Philosophie und bis heute sind der dickste Batzen der Staatshaushalte die Forschungsgelder für den militärischen Bereich.
„Der dritte Mann“ – ein beunruhigender und herausfordernder Film; er fragt nicht nur nach der Moral von der Geschicht, sondern nach der Geschichte der Moral – und zwar so lange, wie Abels Blut zum Himmel schreit.