Worte für den Tag | Sonnabend, 16. März 2013

Einen Freund wollte ich besuchen. Der lag im Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin sah ich eine kleine Buchhandlung, trat ein und sagte, ich wolle ein Buch für den Besuch bei einem Kranken erstehen. Die Buchhändlerin fragte freundlich: „Soll es etwas Christliches sein oder geht es ihm schon besser?“ Treffend, erhellend, gut gefragt – und doch habe ich mich geärgert, weil sie eine schwache Stellung getroffen hatte. Krankheit, Leid und Schmerzen gehören zum Christlichen; Gesundheit, Erholung, Stärkung verbindet man mit ihm nicht. Dabei war das Christentum am Anfang eine große Heilungsbewegung: Menschen wurde die Würde wieder gegeben, sie lernten, aufrecht zu gehen und klar zu sehen. Die Wege von christlichem Glauben und medizinischer Heilkunst haben sich getrennt. Die Frage, ob Gesundheit wirklich nur ein medizinisches Problem ist, könnte sie wieder zusammenbringen…
Was habe ich aus der Buchhandlung ins Krankenhaus mitgenommen? Gedichte von Marie-Luise Kaschnitz. Darunter eines, das mir für die Gesunden wie für die Kranken besonders passend schien. Ein Lied aus Alltag, Widerspruch und Dankbarkeit, es heißt „Ziemlich viel Mut“, von Marie Luise Kaschnitz:

Ich finde doch, dass ziemlich viel Mut in der Welt ist,
Wenn man die Tage bedenkt, an denen es gar nicht recht hell wird.
Und die Jahre ganz ohne Hoffnung. Wenn man bedenkt,
Dass es gar niemand gibt, der nicht seine Sorgen hätte,
Zumindest diese: Kind, was wird dir geschehen?
Und wir wissen doch alle, wie sehr wir misstrauen
Dem Dach über unserem Kopf und der Erde zu unseren Füßen.
Und dass keiner von uns mehr sagen mag: Rose, Schwester und Bruder Tod
Und Heimat Ewigkeit.

Und doch hab ich heut gesehen, wie einer die Buche pflanzte, den dürren Stecken,
Und sah zu ihr auf; als wölbte sich schon über seinem Haupte die Krone.
Den ganzen Tag habe ich Lastwagen fahren sehen voll Bretter und Schwellen,
Voll Balken und roter Ziegel,
Ich sah mein eigenes Gesicht im Spiegel, als ich fort ging, dir zu begegnen.
Wie war es voll Freude.

15 Zeilen: Marie Luise Kaschnitz, Ziemlich viel Mut in der Welt, Gedichte und Geschichten, Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002, S. 158