Wahlen nahen und sie lösen beunruhigende Gefühle aus. Es geht dabei um nicht mehr als um die Frage, wie wir miteinander leben wollen – hier bei uns – aber auch in Europa. Wie bezaubernd die humorvolle Klugheit der polnischen Dichterin Wislawa Szymborska. Ich lese ihr Gedicht Psalm:
Wie undicht sind die Grenzen menschlicher Staaten!
Wie viele Wolken treiben straflos darüber hinweg,
Muss ich hier jeden Vogel erwähnen wie er fliegt oder wie er sich eben setztauf den gesenkten Schlagbaum?
Von ungezählten Insekten nenne ich nur die Ameisen,
die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzpostens auf dessen
Frage: woher, wohin,- sich zu keiner Antwort bequemt.
Schmuggelt da nicht vom anderen Ufer die Weide das hunderttausendste
Blatt über den Fluss?
Kann überhaupt von Ordnung gesprochen werden, wo man nicht einmal die
Sterne ausbreiten kann, damit man weiß, wem welcher leuchtet?
Gott segne und behüte uns, er schenke uns den Blick auf seine grenzenlos schöne Welt!
Quelle: Wislawa Szymborska, Deshalb leben wir, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M., 1980, 59f, Auszüge, s. auch: W.S., Hundert Freuden, Gedichte, Suhrkamp 1996, 49f.