Abendsegen | Donnerstag, 27. August

Wislawa Szymborska ist in der Weltliteratur die Stimme Polens, Nobelpreisträgerin mit weiter Anerkennung, schmalen Gedichten und bewegender Kenntnis biblischer Frauen. Wir hören zu:
„Angeblich sah ich zurück aus Neugier; außer der Neugier hätt ich auch andere Gründe haben können…
Ich spürte das Alter in mir.. Die Entfernung. Die Schläfrigkeit. Ich sah zurück aus Angst, wohin die Schritte lenken. Ich sah aus Verlassenheit zurück.“
Wer ist diese namenlose Frau? Sie ist auf der Flucht vor dem Entsetzlichen, das ihrer Heimatstadt droht. Sie blickt hinter sich und erstarrt vor Schrecken. Die Bibel erzählt, sie wurde zur Salzsäule. Warum dreht sich die Frau um ? Szymborska spricht vom Alter, der Leere des Wanderns, der Angst, wohin die Schritte führen, von Verlusten. Mit Verlusten leben und doch nicht rückwärtsgewandt? Erinnerung kann etwas anderes sein als gebannte Rückschau. Erinnerung kann auch Verarbeitung sein, kann auch Kraft und Hoffnung geben. Es geht so viele an! Helfen wir einander zu Neuanfängen, wo wir können!

Unser Vater, Erinnerungen kommen uns nahe! Hilf uns, sie wahrzunehmen, zu verarbeiten und
den stärkenden Schlaf zu finden: Nimm dich unser gnädig an, wenn die Nacht kommt.

Quelle: Wislawa Szymborska, Deshalb leben wir, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1980, 57