Abendsegen | Montag, 27.12.

Wir leben „zwischen den Jahren“. Ein kostbarer Zwischenraum. Begrenzt von den zwei Großereignissen Weihnachten und Silvester. Bis Weihnachten rackern sich viele ab, um Berufliches zu erledigen, letzte Vorbereitungen zu treffen, dann kommt in vollem Lauf das Weihnachtsfest, übervoll gepackt mit Programm, Besuchen und zu viel Essen. Danach die Zeit zwischen den Jahren. Keine Familienrituale, keine Pflichtbesuche – eine wunderbare Zeit – Lesen, Musik hören, Spielen, Spazieren gehen – keine Termine. Ab und an im späten Nachmittag die kleine Frage: „Ist noch Honigkuchen da?“ Rose Ausländer aus Czernowitz in der Bukowina, dem Buchenland, erinnert sich:

Eine Freundin
backt mir Honigkuchen.
Es duftet nach Mutter
schmeckt nach Kindheit.
Die blüht noch in mir.
Birnen trinken Blütensaft
die tote Mutter schaukelt mein Bett
und singt alte Kinderlieder.
Eine Scheibe Honigkuchen
verwandelt die Welt.

Gott möge ihren Schlaf segnen mit Bildern der Kindheit, mit Lachen und Licht, mit Brot und Honigkuchen,

Quelle: Rose Ausländer, Ich höre das Herz des Oleanders, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1984