Abendsegen | Sonnabend, 1. Januar 2022

Eine Geschichte zum ersten Abendsegen im Jahr 2022 –  zum Innehalten vor dem Start.

Eine Frau, Anfang Dreißig, betritt den Speisewagen des ICE von München nach Leipzig. Mit freundlicher Stimme bittet sie die Anwesenden um einen Augenblick Aufmerksamkeit. Sie sei die Tochter des Lokführers. Ihr Vater habe just in dieser Stunde im Führerstand der Lok seine letzte Fahrt. Nie habe ihr Vater die Fahrgäste sehen können, für die er die Verantwortung getragen habe. Ob sie denn allen Fahrgästen eine Rose geben dürfe, die diese bei der Ankunft in Leipzig ihrem Vater hochreichen könnten?

Es wurde still im Speisewagen, erstaunte Gesichter, nickende Köpfe. Manager, Studentinnen, Laptop-Klapperer, Bundeswehr-Soldaten – alle trugen eine Rose, als der Zug in Leipzig einfuhr. Eine lange Reihe Reisender rückte auf dem Bahnsteig zur Lok vor und hielt eine Rose mit Gruß hinauf zum tränenüberströmten Lokführer. Reisende aus Japan zückten die Kameras.

Vielleicht erzählen sie zu Hause, es gäbe in Deutschland so wenig Bahnunfälle, weil die Reisenden nach jeder Tour den Lokführer mit Blumen überschütteten…
Vielleicht ging manchen auf, dass nicht sie fahren, sondern Mitfahrende sind –  auf diese oder andere Weise wie wir alle im kommenden Jahr.

Unser Vater, meine es gut mit unserem Schlaf, segne die Reise durch die Nacht und lass uns gut ankommen!