Wohllautend und wohltuend | Ein Bücherbrief zum ausklingenden Jahr 2022

So könnte es gewesen sein…
Schleichers Buchhandlung schließt an einem späten Herbstmorgen im Jahre 1934 das Dahlemer Geschäft auf, drei lebhafte junge Frauen stürmen zur offenen Tür herein und bestellen eine Reihe sehr unterschiedlicher Bücher, Militärgeschichtliches, russische Romane, Kinderbücher. „Wohin sollen wir das liefern?“, fragt der Buchhändler. Wie aus einem Munde klingt es ihm entgegen: „Hammerstein, Breisacher Straße 19/Ecke Hüninger, da vorn gleich um die Ecke!“ Und einer der jungen Damen in Motorradkluft ruft noch: „Und wenn Sie etwas über Motorräder finden, bitte auch noch!“ Die Buchhändlerin und der Buchhändler schauen ihnen nach und sagen: „Ja! Hammersteins Töchter!“
Es könnte so gewesen sein… 

Geschichte lasse sich beschreiben als Quellendokumentation, als historische Darstellung und als – Roman! In seiner Einleitung zu Tolstois „Krieg und Frieden“ gibt Heinrich Böll diesen drei Formen seine Zustimmung. Und so haben wir ein „romanhaft verdichtetes Zeitbild“ (Steinbach) vorzustellen, dem es gelingt, die vielen Widersprüchlichkeiten des 20. Jahrhunderts abzubilden, in denen nicht zuletzt „Dahlem“ ein wichtiger Ort ist… 

Gottfried Paasche. Hammersteins Töchter. Eine Adelsfamilie zwischen Tradition und Widerstand
Metropol Verlag Berlin, 2022, 352 Seiten, mit einer Einführung von Peter Steinbach, 24.00 € 

Die Geschichte einer außer-ordentlich untypischen Familie deutscher Adels- und Militärtradition. Das hatte die Familie vor allem den Töchtern zu verdanken, die auf eine unvergleichliche Weise jeden vorgegeben Rahmen, jede durch Tradition mitgebrachte Barriere, jeden aufgrund der Familiengeschichte gespannten Horizont derart souverän durchbrachen, dass einem der Atem stockt. Ein solches Maß an kreativer Aufsässigkeit, an subversiver Energie und kraftvoll widerständigem Denken und an unbezwingbarem Trotz bringen die Töchter in die Familien- wie die politische Geschichte, dass es nur der unentschiedenen Mentalität deutscher Geschichtsschreibung zuzuschreiben ist, dass es bis heute gedauert hat, ihnen Porträts zu geben. Nein, so pauschal geht es wieder nicht, denn H.M. Enzensberger hatte 2009 mit „Hammerstein oder Der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte“ (Suhrkamp) so geist- wie anspruchsvoll ein Porträt des Vaters Kurt von Hammerstein vorgestellt, in dem die Töchter aufschlussreiche Erwähnung fanden! Äußerst aufschlussreich war auch die vielstimmige, zwischen Verriss und Jubel wogende Reaktion im Feuilleton… Mit dem Wort „Eigensinn“ hatte Enzensberger eine Nuance getroffen, die Vater und Töchter glänzend charakterisieren, aber auch den später geborenen Sohn Franz, dessen spezifischer Eigensinn ihn 1956 zu einem der Gründungsvater von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste werden ließ. Der Untertitel „Zwischen Tradition und Widerstand“ macht es der deutschen Geschichtsschreibung schwer, Position zu beziehen, man denke nur an den gegenwärtigen Zank um Rebecca Donners „Mildred – die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler“, Kanon Verlag. Welch ein Elend um die Geschichte der „Roten Kapelle“ zwischen der DDR und westlichem Geschichtsbild… 

Gehen wir ins Buch und nehmen folgende kleine Szene, die wie in einem Medaillon vieles der Hammerstein-Familie zusammenfasst: „1927, als sie in der Hardenbergstraße lebten…kam Marianne von Weizsäcker zum Tee, eine imposante Dame. Sie war die Ehefrau von Ernst von Weizsäcker…1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Ribbentrop und während des Krieges u.a. Botschafter im Vatikan. Die beiden waren die Eltern von Carl Friedrich, dem Physiker und Philosophen, und Richard, dem späteren Bundespräsidenten der Bundesrepublik. Während man im Garten Tee trank, erschien plötzlich Esi (Maria Therese, zweitälteste Tochter Hammerstein), die von einem ihrer Ausflüge zurückgekehrt war, was Frau von Weizsäcker – erzkonservativ und mit einem Mann verheiratet, der der Weimarer Demokratie skeptisch bis ablehnend gegenüberstand – zu einem Kommentar über die Freiheiten der Hammerstein-Töchter veranlasste…
(Kurt von Hammerstein) sagte zu Marianne von Weizsäcker: ‚Meine Töchter sind freie Republikaner. Sie können reden und machen, was sie wollen.‘ Eine andere Version ist überliefert: ‚Laß’se, sie sind freie Republikaner und sollen sich allein erziehen.’“ (S. 109).


Fridolin Schley gab jüngst Einblicke in die Welt dieser Familien in seinem Roman (!) „Die Verteidigung“ (Hanser Verlag 2021), aus dem er auch in Dahlem las. Was wir hier hören, sind nicht die Worte eines Mannes aus dem deutschen Offizierkorps von 1927, doch der „Eigensinn“ des Vaters war längst den Töchtern „eigen“ geworden. Wie er wuchs, welche atemberaubenden Formen er annahm, welche Menschen im damaligen Berlin er einbezog, welche Grenzen er subversiv und wider alle Rechtsvorstellungen überschritt, beschreibt nun Gottfried Paasche, Sohn der zweitältesten Tochter der Familie Hammerstein. Er tut es kenntnisreich und unüberhörbar zugeneigt. Das freundschaftlich- einfühlsame Vorwort von Peter Steinbach ist bekömmlich zu lesen, nimmt es doch vielem die Spitze, was sich bei der Betrachtung einer innerfamiliären Geschichtsschreibung kritisch melden könnte. Sehr viele sprechende, eindrückliche, nachhaltig wirkende Photographien bringen den Lesenden die Familie auf ihre Weise nahe.

Immer wieder ist man sprachlos, mit wem die Schwestern aus den anderen „Lagern“ kooperierten und wer in diesem vielschichtigem Zeitbild zu erkennen ist. Da gibt es „unterirdische“ Kontakte zu Kommunisten, zu Juden, zu jüdischen Kommunisten, zu freien Denkern und Denkerinnen jeder Herkunft! Da gibt es sogar Reisen ins damalige Palästina, ja, es gibt verdeckte Preisgabe von Staatsgeheimnissen („Hammersteins Safe“), am Ende war jede „Existenz bedroht“, einige tödlich bedroht. Nur eine sei besonders hervorgehoben: Nach dem wunderbaren Buch „Die Scholems“ (J.H. Geller), gibt es auch bei Paasche ein Porträt von Werner Scholem, Bruder von Gerhard „Gerschom“ Scholem. Die Scholem-Brüder übten eine große Anziehungskraft aus, einer mit der „Roten Fahne“, dem KPD-Organ, der andere mit den schwarzen Druck-Fahnen seiner Texte. Auch Martin Buber, Reformgeist der besonderen Art, ragt in die Welt der Töchter Hammersteins hinein. Buber und Gerschom Scholem wirkten später auf sehr unterschiedliche Weise auf den deutschen Protestantismus ein, Werner Scholem ermordeten die Nazis – Paasche porträtiert ihn einfühlsam. Vom „Eigensinn“ heute zu lesen, tut gut, ist nützlich, fördert das eigene Urteil in unübersichtlichen Zeiten. Wer an einem sonnigen Spätherbsttag durch die stillen Straßen Dahlems geht, wird in der Hüninger Straße am letzten Wohnort Helmut Gollwitzers vorbei in die Breisacher einbiegen und am Haus Nr. 19 auf eine Tafel stoßen: „Hier lebte von 1934-1943 Generaloberst Kurt Freiherr von Hammerstein-Equord 1878-1943“. Sein Haus war Treffpunkt im Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft.“ Am 24. April 1943 starb Kurt von Hammerstein – wie den Abschied des obersten Militärs des deutschen Reiches gestalten? Mit Eigensinn? Die Töchter sind in ihrem Element: Zuerst soll der Vater auf keinen Fall auf dem Invalidenfriedhof beerdigt werden, dort liegen Horst Wessel und Ähnliche; Es darf keine Naziflagge auf den Sarg! Keine Offiziers-Ehrengarde vor die Dahlemer Dorfkirche! Aber was tun mit Hitlers Kranz, groß wie ein Wagenrad ? Was tun mit der Hakenkreuzschleife? Welch ein Missgeschick! Sie wurden beim Aussteigen in der U-Bahn vergessen…Eigensinn. Gottfried Paasche hat ein eigensinniges Buch geschrieben. Es stärkt Sinn und Verstand, fördert historische Einsicht. Das tut gut. Zu Bölls drei Formen, Geschichte zu schreiben – Quellendokumentation, historische Darstellung, Roman – kann eine vierte gestellt werden: Die Autobiographie, die Lebenserinnerung. Sagt die Ortsangabe „Hüninger, Ecke Breisacher“ noch nicht viel, so gehört die Angabe „Jerusalem, Ecke Berlin“ zu den verführerischsten geographischen Notizen überhaupt, kommt sie doch dem Schlüsselumdrehen in das atemberaubendste Erzählzimmer dieses Jahrhunderts gleich: 

Tom Segev, Jerusalem Ecke Berlin. Erinnerungen
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Siedler Verlag, München 2022, 416 Seiten, 32 € 

Liegt der Titel im Buchladen auf dem Büchertisch „Israel Ecke Weltliteratur“, hat er umso mehr den angemessen sprechenden Platz gefunden, so unbewusst wie punktgenau…Und wenn er in „Blau-Weiß“ leuchtet, den Nationalfarben Israels, die aber rechts oben und links unten von den brennenden Weltgeschehnissen bedroht sind, ist die zu erwartende Herausforderung des Buches nicht mehr abzuweisen! 

Tom Segev, prägend-pointierte journalistische Stimme des modernen Israel, ist seinem Buch in Deutschland nachgereist, ist in vielen Interviews, Lesungen und Seminaren gelassen engagiert präsent. In Berlin wurden er und sein Buch von Shelly Kupferberg präsentiert, die selbst eben ihren Urgroßonkel Isidor (wir kommen noch zu ihr und ihm…) vorgestellt hat. Viele Interviews sind lebhaft und rasch, oft mehr vom Interesse an Segev denn von Kenntnis seines Buches bestimmt, denn das Buch könnte ein gediegenes Geschichtsstudium ausfüllen – sieht man sich das Personenregister an, steht die Frage auf: Wer auf dieser Welt ist nicht erwähnt….Von Albert Speer bis Simon Wiesenthal, Hannah Arendt bis Baldur von Schirach – der Bogen umspannt mehr als die Ecke Jerusalem/ Berlin. Und ein „Eckensteher“ war Segev in seinem Leben keine Sekunde, viel eher einer mit Kanten und Ecken, wie er lebenslang in Ma’ariv und Ha’aretz, tonangebenden Zeitungen in Israel, zur Kenntnis gab. 1945 in Jerusalem geboren, nur wenig älter als sein Land, begleitet er diese jüngere Schwester aufmerksam, liebevoll, scharfäugig und weiser werdend von Tag zu Tag bis heute. Zum 75. Geburtstag Israels wird auch er viel jenen zu erzählen haben, die seine Bücher der historischen Begleitung noch nicht lesen konnten: „Es war einmal ein Palästina“ (2005), „Die ersten Israelis, Die Anfänge des jüdischen Staates“(2008) und die Biographien von Simon Wiesenthal (2010) und David Ben Gurion (2018), um nur diese zu nennen. Für seine Dissertation arbeitete er auch in der Nähe der Hammersteins und Weizsäckers, an der Grenze zu Dahlem auf dem Gelände zwischen Wasserkäfersteig und Täubchenstraße, in einer Bunkeranlage, die – in krassestem Kontrast zu den lieblichen Straßennamen – die fürchterlichsten „Dokumente“ der Nazi-Zeit enthielt, dem Berlin Document Center. Berlin selbst nennt er eine „Stadt ohne Frohsinn“, was nicht für andere Orte Deutschlands gilt, das er viel und intensiv bereist. Die Schilderung der Haftentlassung Speers und von Schirachs in Spandau ist ein Alptraum-Kapitel. Später besucht er Speer und es geht ihm durch den Kopf: „Da drücke ich eine Hand, die auch Hitler gedrückt hat.“ Andere Kapitel sind wohltuend, erheiternd, mit Weisheit, Witz und Herzensgüte geschrieben. Ob er nun Teddy Kollek porträtiert, den charismatischen Bürgermeister von Jerusalem, Mutter Teresa, Bärbel Bohley, Hannah Arendt oder Anwar Sadat – immer sind es Menschen mit Geschichten. Und hier schlägt auch das Herz des Buches: Segev ist überzeugt, „dass Deutschland inzwischen für Israel das wichtigste Land ist, gleich nach Amerika. Politisch, wirtschaftlich, militärisch, wissenschaftlich und kulturell gibt es für Israel kein wichtigeres Land…wie unnormal die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel immer noch sind, das war interessant zu analysieren (= Gedenken an das Attentat in München. H.R.). Gleichzeitig gibt es aber trotzdem eine Wärme und eine Kooperation, die Israel – außer mit den USA – sonst mit keinem anderen Land hat.“ (Jüdische Allgemeine, 15.11. ’22) Die Geschichte dieser beiden Länder und ihrer Menschen bewegen ihn und haben ihn zu diesem Buch bewegt. Tom Segevs erzählt von seinem Enkel Ben: „Eines Tages sagte er unvermittelt zu mir: ‚Opa, weißt du, ich habe Worte furchtbar gern.’“ Da kann Segev nur noch antworten: „Ich auch“. Die beiden letzten Worte des Buches – gewiss nicht des Autors…Und es gilt ebenso für die Übersetzerin Ruth Achlama!
Von einem anderen, der Worte furchtbar gerne hat, sie so wunderbar setzt, mit ihnen spielt, so bezaubernd mit ihnen von vergangenen Zeiten erzählt, dass man nicht mehr weiß, wo man gerade ist, sie so funkeln lässt, sie so elegant und einfallsreich zu verbinden weiß, mit ihnen einzigartig schwebende Nebensätze, von denen keiner umfällt, zu bauen vermag, aus ihnen so leuchtende wie schwarzschimmernde Bilder entstehen lässt, dass man die Augen schließen muss, mit ihnen ein fünfbändiges Werk in die literarische Welt setzt, das man nur als große Schatztruhe benennen kann oder kurz und voll verblüfft mit „Welch ein Coup!“ begrüßen kann und den Verlag mit einen Lorbeerzweig rühmen muss: 

Andrea Giovene, Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero, Ein junger Herr aus Neapel, Roman, Band 1, Aus dem Italienischen von Moshe Kahn, mit einem Nachwort von Ulrike Voswinkel, Galiani Verlag, Berlin 2022, 305 Seiten, 26.00 Euro 

Andrea Giovene, Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero, Die Jahre zwischen Gut und Böse, Roman, Band 2, Aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Galiani Verlag, Berlin 2022, 336 Seiten, 26.00 Euro 

Zugegeben, meine erste Sympathiebewegung galt Moshe Kahn, dem Übersetzer. Er hat Primo Levi, den unvergleichlich humanen Erzähler von Auschwitz, in die deutsche Sprache gebracht; wir können dank ihmPier Paolo Pasolini, Luigi Malerba, Andrea Camillieri und Norberto Bobbio in Deutsch wahrnehmen, nun auch den literarischen Schatz von Andrea Giovene genießen!
Den Töchtern Hammersteins gleich in Berlin verlässt in Neapel der junge Guiliano sein aristokratisches Elternhaus und „erfährt“ Länder, Menschen und Mentalitäten in Europa, mit Leichtigkeit und Eleganz auf vielfältig verwirrende Weise italienische amore und französischen esprit, beide aufs Allerdeutlichste in verführerischer Diskretion, aufs Erkennbarste verschwiegen, liebesschmerzlichst diszipliniert und auf das Charmanteste gut erzogen – in einem hellwachen, vornehmen, bezwingend schönen Deutsch, das die geschliffene Kunstprosa (so die Kenner) glänzend wiedergibt.

Am Ende des nächsten Jahres werden fünf Bände dieser Lebensreise durch Europa zwischen 1903 und 1957 vorliegen; in den zwei nun erschienenen erlebt Guiliano in Neapel den anhebenden Faschismus mit Mussolini und kopfverdrehende Abenteuer in dem „schönen septembrischen Paris“, wozu auch sensible Exkursionen in die Welt von Rubens` Zyklus der Maria de Medici und das Werk Goyas im Prado gehören. Auf viele anmutige weibliche Wesen fällt sein Auge, „und er verhedderte sich in den Fängen seiner verdammten Komplexe“. An vielen aufregenden Orten hält er sich auf , zeichnen sie sich nun aus durch Opulenz oder durch Misere. Gerät er in Kreise von „entmutigender Zweitklassigkeit“, weiß er zu fliehen…Fluchtpunkt ist immer die Wärme der Heimat und der Schoß der Familie in Süditalien, wo die Familie sich seit dem 11. Jahrhundert durch die Zeiten bewegt. Dort in Neapel wird er in striktem Patriarchat „gebildet“, erzogen, geprägt, zur wachsenden Neugier auf ein ganz anderes Leben eingestellt, jenseits der Traditionen, Konventionen, Etikette und Weltsichten, allesamt in Stein gemeißelt und komplett vernachlässigt. Und er lernt, lebensbestimmend, ein junges Mädchen kennen: „…von ihr bewacht, würde ich nie mehr einsam sein, noch würde ich mich je wieder verlieren.“ Er verliert sie, er verlässt die Heimat, er versucht sich in einer neuen Existenz zwischen Einsamkeit und mondäner Gesellschaft, Abbrüchen und Aufbrechen in Mailand, Paris und Rom, heillosen Affären und dichterischen Höhenflügen – der alltägliche Faschismus sorgt für eine bedrohliche Gefährdung in allem Handeln.

Ulrike Voswinckel erzählt im kenntnisreichen Nachwort zum ersten Band die ganze Geschichte – uns bleibt nur, die Bände drei bis fünf sehnlichst zu erwarten. Vom Autor (1904-1995), brillant belesener Journalist und Privatgelehrter, soll hier nur so viel gesagt werden, dass er in vielem seinem Helden nahekommt. Er wird in den Medien oft mit Marcel Proust und Giovanni Tomasi di Lampedusa („Der Leopard“) zusammengebracht, was wohl Werbeüberredung ist. Anfangs wollte kein Verlag das Manuskript annehmen, es benötigte bizarre Umwege (999 Privatdrucke u.ä,) zur Öffentlichkeit.

Bizarre Wege, der Öffentlichkeit zu entgehen, ja, sie zu meiden, aus ihr zu entfliehen, wird jeder Mensch finden wollen, der ein Buch liest, von dem er nicht lassen kann. Er wird gerade in den festlichen Tagen Besuche vermeiden, zu keiner Einladung gehen, Verstecke ausfindig machen, familienfeindliches Verhalten vorgeworfen bekommen, auf Fest- und Freizeitdistanz gehen, weil er nicht anders kann, denn das Buch hat ihn magnetisch, hypnotisch in Bann gezogen; er und sie können es nicht beiseite legen, so überbordend furios ist seine Anziehungskraft: 

Thomas Hürlimann, Der Rote Diamant, Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2022, 317 Seiten, 23 Euro 

Es sind diese Benediktiner-Klöster, die die jungen Helden erziehen wollen, die die aufregenden Internatsromane hervorrufen“. „Das leuchtende Gegenstück auch der drückendsten Einsamkeit ist die Freiheit. Doch in gewissen Einrichtungen ist man nur einsam, ohne frei zu sein…“ seufzt Giuliano, das Kloster vor Augen, seufzt Arthur Goldau: „Das Kloster, in dessen Internat ich morgen Nachmittag als Zögling eintreten würde, lag in den Bergen und war der Himmelskönigin geweiht und hieß Maria zum Schnee“. Es sind diese Internate, die seit Musils Zögling Törleß und Hermann Hesses Hans Giebenrath das Leben „ein für allemal“ prägen. Allein der Widerstand gegen das diktatorische System der Kadettenanstalt ließ Hammerstein seinen anderen Weg finden. Ian McEwans „Lektionen“ nehmen durch erotische Verstörungen in der Erziehungsanstalt ihren Lauf auf. Nun gerät aber das aberwitzige  Benediktiner-Internat in Hürlimans Roman in eine solche furiose Abfolge maßlos anarchistischer Explosionen, dass man angesichts der Eruptionen an Bildern, Porträts, schächtetiefer menschlicher Abgründe, himmelwärts gerichteter Obsessionen, dass man von Seite zu Seite aufs angespannteste blättert in der Erwartung der nächsten Koboldereien an Witz, Intellektualität, Bildkraft und literarischen Radschlägen. Arthur Goldau wird von seiner Mutter Mimi im Kloster abgegeben – allein dort hin zu gelangen braucht einen todernsten Slapstick – und kommt in eine zwar postchristliche, weil komplett verkalkte, aber keineswegs heidnische Welt, im Gegenteil: Menschen und Zeiten werden permanent durchschossen von einer ehemals totalen katholischen Welt. Man muss schon wie der Autor selbst ein solches Internat im Kloster als Lebenswelt kennengelernt haben (Hürlimann „absolvierte“ im exzellenten Kloster Einsiedeln seine Lebens-Schul-Zeit…), um diese geistlich-intellektuelle Grundausstattung zu erwerben und sie wieder abzustoßen. Die Detektivkomödie über die Suche nach dem roten Diamanten bietet nur die Bühne für einen schwindelerregenden Wirbel an irrealen Phantasieexzessen, der durchaus„Plausibilitätsfallen“ (Jochen Hieber, FAZ, 17.08.22) bereithält, bei so viel somnambuler Konstruktionsenergie kein Wunder. Der rote Diamant soll seinen Weg vom Hals der Cleopatra in den Kronschatz der Habsburger genommen haben – die Beschreibung der Stationen ist gewiss aufregender als das Juwel selbst. Jochen Hieber spricht in der FAZ nachdenklich-amüsiert von einer gewissen „Lachphilosophie“. Ich würde von einem überkochenden Literatur-Fondue sprechen, das bei jedem Spieß-Stich das köstlichste zu genießen verheißt. Womit wir wieder bei den Fest-Tagen sind und „Zwischen den Jahren“, einer Zeit, die gestaltet werden kann! Man kann sie zum Lesen nutzen, zum Gehen (Shane O’Mara „Vom Glück des Gehens, Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so gut tut“, Rowohlt Verlag 2021, 356 Seiten, 12.00 Euro) und zum Sehen – das hieße, vielleicht nach langer Pause wieder ins Museum!? Vom Fernsehen fort und wieder 

Augen für die Kunst, 50 Ansichten und Deutungen Herausgegeben von Hans Dickel mit Beiträgen von Lorenz und Albrecht Wilkens, Liane Nelius,Marian Wild und Henry Thorau, starfruit publication, Fürth 2022, 232 Seiten, 25.00 Euro 

Michael Krüger, Über Gemälde von Giovanni Segantini, Schirmer/Mosel Verlag, München 2022, 207 Seiten, 38.00 Euro 

Kia Vahland, Ansichtssachen, Alte Bilder, neue Zeiten,
Insel Bücherei Nr. 1448, Insel Verlag, Berlin, 112 Seiten, 14.00 Euro 

„ Es gab eine Zeit, da war die Malerei das Leitmedium … sie wandte sich in Kirchen an Analphabeten, im Audienzsaal an Botschafter und Könige, im Wohnzimmer an die Hausherrin. Wer einen Verstorbenen vermisste, ließ ihn malen, wer ein Gegenüber für sein Gebet suchte, erstand ein Andachtsbild … ein neuer Blick auf alte Meister zeigt: Ihre Themen sind unsere.“ So bündig, klar und knapp führt Kia Vahland, Kunstressort der Süddeutschen Zeitung, in ihr äußerst vergnügliches Bändchen ein. Mit 32 Bildinterpretationen zeigt sie auf unsere Themen in alten Bildern: Giorgones Venus trägt bei ihr die Überschrift: Schätzt Auszeiten ohne Pflichten. Tizians Noli me tangere wird von ihr geistvoll überschrieben mit: Was Menschen wirklich berührt. Rubens Venus frigida heißt bei ihr: Rubens zeigt, wie man würdevoll friert. Van Goghs Kurz vor seinem Tod betitelt sie: Van Gogh prangert Altersarmut an. Klimts Adele Bloch-Bauer überschreibt sie: Klimt kennt das richtige Verhältnis von Exzess und Kontrolle. Es ist durchgehend ein kluges Vergnügen, fordert zu eigenem Formulieren und damit Interpretieren auf, lässt sich festtäglichen Runden „spielen“ und ist ein geistvoller Schritt zu alten Bildern in neuen Zeiten. Ihr Inselbändchen „Gartenreich Wörlitz, Ausflug in eine Utopie“ (Inselbücherei 1499, 2022, 85 Seiten, 15 Euro) wird vom „Portal Kunstgeschichte“ hoch gelobt. Mit dem Bändchen in der Hand sollte man sich auf eine Reise nach Wörlitz einlassen. 

Der große Vorteil, den der Band von Dickel, den Brüdern Wilkens und anderen hat, dass sie Bilder vor Augen führen, die wir in Berlin sehen können! Jacob van Ruisdaels „Eichen an einen See mit Wasserrosen“,Nicolas Poussins „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“, Claude Lorrains „ Italienische Küstenlandschaft im Morgenlicht“, C.D. Friedrichs „Waldinneres bei Mondschein, John Constables „Das Dorf Higham am Fluss Stour“, Pierre Claeszens „Stilleben mit Römer und Silberschale“. Viele weitere Arbeiten führen, ähnlich wie bei Vahland, zu Interpretationen und leiten uns an, „Augen für die Kunst auszubilden“, eine intime Form der Selbsterkenntnis. Das Buch ist eine schöne Schatzkammer, in welche Richtung man seine Schritte auch lenkt. Die Überschriften der Interpretationen führen die Bildtitel sensibel weiter. Im Nachwort schreibt Lorenz Wilkens von einer freien, beweglichen „Anspannung der Aufmerksamkeit“ beim unmittelbaren Betrachten der Bilder. Doch auch im Buch wird sie sich wieder einstellen, gewiss beim Museumsbesuch mit dem Band in der Hand… 

„Seit ziemlich genau fünfzig Jahren liebe ich das malerische Werk von Giovanni Segantini. In meiner Jugend hatte sein Bild Rückkehr in die Heimat von 1895 im Museum Dahlem mich auf seltsame Weise angezogen, so dass ich jahrelang behauptete, der Maler müsse (psychisch oder seelisch) etwa so gewickelt sein wie ich…“, eine berührende Eröffnung, ist doch von Liebe die Rede, von seltsamer Anziehung und von Geburt her währender Lebensnähe („gewickelt sein“). So eröffnet Michael Krüger seine mit Segantini verbundene Lebens-und Liebesgeschichte. Der recht bemessene Abstand verbindet am besten, diese kluge Regel fürs Zusammenleben, fürs Leben mit Bildern und Büchern (wie ist es mit der Musik?) wird jede Kunsthistorikerin und jeder Bildbetrachter beherzigen. Krüger ist keiner – er „liebt“, mehr noch, er nimmt, wie aufgeklärt oder analytisch auch immer, eine tiefe Verwandtschaft, eine gegebene Verbundenheit mit dem Maler wahr. Die Zunft reagiert auf das Buch verwundert, mal grämlich dämpfend, mal verwundert-beglückt. Roman Bucheli mag den Nerven des Buches (Neuen Zürcher Zeitung,02.07.’22) am nahesten kommen: Er sieht, in der Sprache der Romantik, eine „Seelenverwandtschaft“ der beiden in ihrer Liebe zum unverstellten Licht der Schöpfung, in den Anflügen zu einer elementaren Kunstreligion, zum Existieren in einem himmelsgleichen Lichtraum fernab aller trubeligen Ablenkungen des geschäftig-leeren Alltags. Das würde Segantini, den Maler des Lichtes über der Oberengadiner Alpenwelt, der nur „draußen“, plein air, arbeitete und somit allzeit in der elementaren bäuerlichen Welt lebte mit dem auch aus der land-wirtschaftlichen Erfahrung stammenden, und jüngst in erzwungenen Einsamkeiten ausharrenden Krüger eng verbinden. Bucheli geht so weit, beiden eine gewisse religiöse Zuneigung zur lichterfüllten Schönheit der Schöpfung, dem Schau-Raum Gottes, zuzusprechen. Und wenn Krüger sagt: „Mit Segantini kann man sehr weit sehen“, ist das gefüllt mit wortlosen Ahnungen und Empfindungen und wir verstehen: Der Romanautor ist ein Romantiker. 

Michael Krüger nähert sich seinem Maler literarisch, sprachlich mit-malend, empathisch; er neigt sich zu den Bildern, in unverstellter Zuneigung und Zuwendung. Er widmet den schweren, schönen bilderreichen Band den Freunden, „mit denen ich oft vor den Bildern gestanden habe“ und die „während des Schreiben meines Textes gestorben“ sind – unter ihnen Karl Heinz Bohrer und Klaus Wagenbach. Und ein klein wenig klingt durch das Buch der Versuch, sich mit den Bildern Segantinis noch einmal des eigenen Lebens zu vergewissern. Da schreibt einer ein Buch für sich und es wird ein Geschenk für viele.. 

Der immer gut aufgelegte Diogenes-Verlag legt seinen Büchern eine charmante Werbe-Karte bei: Verzichten Sie auf etwas anderes. Guter Rat und nicht teuer: 

Shelly Kupferberg: Isidor, Ein jüdisches Leben Diogenes Verlag, Zürich 2022, 240 Seiten, 24.00 Euro 

 „Mein Urgroßonkel war ein Dandy. Sein Name war Isidor. Oder Innozenz. Oder Ignaz. Eigentlich aber hieß er Israel…er war eigensinnig und voller Stolz…wie sonst hätte er sich aus Lokutni bei Tłumacz, Tłumacz bei Kolomea, Kolomea bei Lemberg ganz nach oben hangeln können? Bis zu dem Tag, als Menschen ausgelöscht werden sollten…“ Menschen mit Eigensinn begegnet man häufig in heutigen Büchern – weil sie seltener werden? Shelly Kupferberg, in Berlin lebhaft engagiert in der medial-kulturellen Öffentlichkeit, hat den weisen Satz der jüdischen Tradition „Die Kette der Generationen darf nicht reißen“ wahr gemacht und ist in die Familiengeschichte eingedrungen, mit liebevoller, auch vorm Schrecken nicht kapitulierenden Detektivinnenarbeit. Die führt sie nach Tel Aviv (zum Hängeboden in der großelterlichen Wohnung, wo die Kartons mit alten Briefen liegen…) und nach Wien in diverse Archive mit verwunderlichen Quellen, die bringt sie zu Studien und biographischen Rekonstruktionen im Geäst der verzweigten Familie. Eine wichtige Rolle nimmt auch ihr Großvater, der Historiker Walter Grab, ein. An dieser Stelle musste ich die Lektüre abbrechen, denn ich habe Walter Grab in einem langen Gespräch kennengelernt und wusste damals nichts von seiner Geschichte. Unser Gespräch ging um „frühe Demokraten“, sein Spezialgebiet. Ich erinnere mich, dass er in Nikolaus Lenaus Gedichten politische Spuren witterte, was mir völlig neu war. Nach einer gehörigen Scham-Pause las ich weiter… 

Shelly Kupferberg liest gegenwärtig an vielen Orten, gibt auskunftsreich Interviews und hat mit ihrem Band einen unvergleichlichen weiteren Baustein zu ihrem Untertitel hinzugefügt: „Ein jüdisches Leben.“ Wie so oft erzählt ein Witz auf mehreren Ebenen mehr als viele Erzählungen vom Durchkommen. Einer aus der Freundschaft Isidors macht sich auf den Weg aus der Sowjetunion nach Amerika:und der Grenzbeamte fragt ihn, was das für eine Büste sei, die er mit sich trage. Darauf korrigiert ihn der Jude: „Nicht was ist das, sondern wer ist das? Lenin!“ Der Grenzbeamte ist entzückt und beeindruckt von so viel politischem Rückgrat und wünscht dem Juden viel Glück im Exil. Als dieser in die USA einreist und auch dort vom Zollbeamten befragt wird, wer denn das sei, den diese Büste darstelle, korrigiert der Jude: „Nicht wer das ist, sondern::Was ist das? Sei die richtige Frage, und die Antwort dazu laute: Platin!“ 

Shelly Kupferberg erzählt Geschichte in Geschichten. Am Ende besucht sie Isidors Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof und sieht dort Rehe und Hasen, die drumherum grasen. Und ist entzückt, bis sie erfährt, dass Jäger sie auch erlegen; ein Bild für die Gebrochenheit dieser Welt. Unbedingt sehen, unbedingt lesen!

Wie hatte Kupferbergs Verlag Diogenes empfohlen: Verzichten Sie auf etwas anderes. 

Das gilt uneingeschränkt auch für zwei literarische Großprojekte, die im Grunde keiner Erwähnung, geschweige denn Empfehlung mehr bedürftig sind; Eine Autorin hat soeben den Büchnerpreis erhalten und der andere Autor – oft verfilmt, mit Goethe-Medaille – steht bei Diogenes seit langem in der ersten Reihe: 

Emine Sevgi Özdamar, Ein von Schatten begrenzter Raum, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 2021, 765 Seiten, 28.00 Euro 

Ian McEwan, Lektionen, Roman, Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben
Diogenes Verlag, Zürich, 2022, 714 Seiten, 32.00 Euro 

Es gibt in der Buchbranche den Begriff longseller, so z.B. für H.M. Enzensbergers klug-vergnügliches Buch über die Mathematik; für books, which take a long time to read gibt es noch keinen Fachbegriff. Sie entziehen sich der Etikettierung. Es ist schier unmöglich, Emine Sevgi Özdamar zu etikettieren, weil ihre Arbeiten, ihr Schreiben, ihr Erzählen im wörtlichen Sinne un-be-schreiblich sind, „als würde sie die Welt ein- und ausatmen“, sagte die Laudatorin Marie Schmidt bei der Büchnerpreis-Verleihung mit vollem Recht, und auch dieser Satz ist völlig hilflos und unzureichend angesichts der Sprache Özdamars, zu der man sich verhalten muss wie zu einem Lebewesen,der Wetterlage oder einem Tsunami. Ihr Buch ist einer Bühne gleich, ohne Ende in alle Himmelsrichtungen, erfüllt von hundert Sprachen – hundert? Wenn die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung ihre „neue poetische Weite“ des Geistes und der Großherzigkeit preist, bleibt das noch immer auf der Ebene einer Sprachlähmung. Ich gebe es daher auf – Özdamars Buch ist nur mit einem Satz von ihr selber zu rühmen: „Ich wollte nicht mehr schlafen, weil man beim Schlafen so viel Zeit verliert.“ Sie kommt Anfang der Siebziger Jahre aus Istanbul nach Deutschland, verfällt dem deutschen Theater und seinen Regisseuren, rettungslos Benno Besson und nun „spielt“ ihr Leben zwischen Berlin, Bochum, Paris und dem Rest der Welt… Ein kluger Mann nennt sie „Poetin des Unsagbaren“. So ist es. 

Beim englischen „Lessons“ höre ich mehr Strenge und Entschiedenheit als bei dem deutschen Fremdwort „Lektionen“, das mich an Schulbücher und Arbeitsschritte erinnert. Eine „Lektion fürs Leben“ sagen wir, doch bei Ian McEwan erteilt das Leben selber die „Lessons“. Klavierstunden heißen auch Lessons…und sie bestimmen die Biographie Ian McEwans, der in englischen Lesekreisen auch schon mal Ian Macabre genannt wurde. Doch die knabenverführende Klavierlehrerin wird eher unaufregend denn makaber gezeichnet, gibt aber dem Internatsschüler (diese Internate!) eine Prägung fürs Leben mit. Ian McEwan erzählt europaweit raumgreifend und familienweit ausgreifend, in den Berlin-Kapiteln mit frappierender Ortskenntnis.
Man liest anhaltend entlang der sich ausdehnenden Girlande ineinander geschlungener Erfahrungen, Freuden, Bitterkeiten und Belehrungen; Erinnerungsmelancholie und das Verhältnis der Generationen zueinander geben den Erzählton an. Wer dies liest, kommt unversehens „zwischen die Jahre“ – vielleicht die beste Zeit um Lesen, zwischen Selbstüberprüfung und Selbstversenkung, eben „zwischen den Jahren“. Unter beschleunigten Lebensverhältnissen, pandemischer Not und Kriegshorizonten wohllautend und wohltuend.
Und wer nach all diesen Leseparadiesen selbst zum Schreiben sich aufmachen will, um anderen etwas zum Lesen zu bereiten, der kann mit einen Textbuch der Universität Syracuse, New York, sich auf den Weg machen.
Dort lehrt seit langem ein Autor kreatives Schreiben, mit dessen Hilfe sich noch mehr lernen lässt: 

George Saunders, Bei Regen in einem Teich schwimmen, Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen, Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert,
Luchterhand Verlag, München 2022 , 2. Auflage, 544 Seiten, 24.00 Euro 

In diesem Buch gewordenen Fernunterricht druckt Saunders sieben Erzählungen ab, drei von Tschechow, zwei von Tolstoi, und je eine von Turgenjew und Gogol. Und dann beginnt die seminaristische Arbeit eines Literaten mit literarischen Stoffen, und das mit Verve, Vergnügen, Lust am Verstehen, Freude an der Wahrhaftigkeit und vor allem mit Lust am Schreibenlehren: Wie verführe, überrede, tröste, zerstreue, bezaubere ich? Und das alles z.B. mit der Erzählung Stachelbeeren von Anton Tschechow oder – einmalig – mit der Nase von Gogol! Und was lerne ich beim Übersetzen des Satzes: „Drei weiße Korbsessel starren in den Dschungel aus Zimmerpflanzen ringsum, so als planten sie ihre Flucht“? Beim Übersetzen hat auch Olga Radetzkaja mitgeholfen. Der Originaltitel verdeutlicht noch einmal das große Studienabenteuer der Lust am Lesen und Schreiben: „A Swim in a Pond in the Rain, in which Four Russians Give a Master Class in Writing, Readind and Life.“ Das umfasst mehrere Semester…