99 Schafe suchen

oder
Erinnerungen an die Zukunft der Kirche

Mein Freund, der Architekt, sprang vom runden Tisch auf, eilte zum Reißbrett, zog Linien, trat zurück, prüfte, wog ab, wiegte den Kopf, setzte neu an, verbesserte, maß den Grundriss mit raschem Blick, wechselte das weiße leere Blatt, entwarf eine zweite Skizze, trat zur Seite, setzte wieder an – hier einfallendes Tageslicht, hier ahnungsvolles Dunkel, dort helle Lichtbahnen und ein Flugdach – spielte mit dem Zeichengerät, lachte und fragte: „Habe ich mich vermessen?“

Ach, mussten wir sagen, die Gemeinde ist kein leeres Blatt auf dem Reißbrett, keine tabula rasa, keine Einladung für kreative Konstrukteure, die genau wissen, wie viel leichter ein Neubau gegenüber einem Umbau ist. Die Gemeinde ist ein „altes Haus“, das schon gebaut und nicht beliebig abzuändern ist. Es gibt da viele Stilarten vieler Umbauten zu erkennen, Risse von den Erschütterungen der Zeit, abblätternde Farben: romanisch und romantisch, mystisch und mysteriös, paulinisch und wilhelminisch, hochkirchlich und vereinsselig, patent und latent, weltfremd und weltfromm – ist dieses Haus abbruchreif geworden?

Die Freundin des Architekten, Fachfrau für Innovationen im Mittelstand, hielt einen Flyer hoch, entfaltete ihn und rief: „Die evangelische Kirche gibt sich ein Leitbild – Woran denken Sie bei Kirche? Alle haben die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Wir nicht. Evangelische Kirche sucht Sinn, Lebenssinn. Die Kirche fragt nach dem Sinn und lädt ein zum gemeinsamen Suchen nach Antworten!“ Sie rollte das Papier, strich es wieder flach, faltete es zu einem Papierschiffchen und stellte es auf den Tisch zu drei, vier hohen Bücher, lachte und fragte: „Hier ist der Markt. Hier steht die Kirche. Seit Jahrhnuderten. Hier sind Bankentürme, Verwaltungstürme, Hoteltürme. Hier ist der Markt. Habt ihr ein Leitbild, eine Marktchance? Oder habe ich mich vermessen?“

Mein Freund, der Befreiungstheologe im Ruhestand, rückte seinen Kamelhaarponcho zurecht, nahm einen Löffel vom wilden Honig und rief: „Ich kenne diese Heuschrecken!“, dabei griff er wie zur Vergewisserung nach der kleinen silbernen Axt, die ihm um den Hals hing„ „Jetzt gilt: Ausverkauf oder Geistbegabung! Die Kirche steht auf der Verheißung, dass die Pforten der Unterwelt sie nicht überwältigen! Gebt dem Markt, was dem Markt gehört, und Gott, was Gott gehört! 99 Schafe lässt der Hirte zurück, um eines in den Bergen zu suchen. Bitte, die Zahlen umstellen! Statt den verbliebenen Schafen das Fell immer weißer zu waschen, sollten wir mit ihnen zusammen zu den vielen in die Berge gehen! Weil du Jesu Schäflein bist, deswegen hast du Wolle, und die musst du scheren lassen! Man hat die Schafe nicht wegen der Weide, man hat sie wegen der Wolle!“

Der Freund des Befreiungstheologen, ein weit gereister, ökumenisch erfahrener Priester aus der Neuen Welt, suchte in seinen Jackentaschen und förderte Flugtickets, Taxiquittungen, Telefonkarten zu Tage und rief: „Er hat Recht!“ Dann fand er ein Knitterpapier, lachte und rief:: „Die, die uns leidenschaftlich beschäftigen, sind gar nicht die, die da sind, sondern die anderen! Ich sprach darüber bei einer Konferenz in New Mexiko, oder war es in Eisenach? Kennen wir die Menschen außerhalb der Gemeinde? Ist das vermessen?
„Wen?“, rief die Fachfrau für Innovation , als wolle sie einiges über sich erfahren, „wen und wo?“ Der weit gereiste Priester blickte auf seine ökumenische Losungen-Blatt-Sammlung und entzifferte: „Die Menschen im Containerhafen von Rotterdam, im Thermalbad vom Hotel Gellert in Budapest, bei Ikea an der Leningrader Chaussee im Norden Moskau, im Plastikmüll von Bukarest, an der Tankstelle vor Wilna, hinter dem Bahnhof Zoo – also im eigentlichen Europa, in der Ökumene, auf dem Marktplatz von Babylon –da werden sich Geist und Kraft erweisen ohne Leitbild!“. Er lächelte, offenbar kamen ihm mehr Erinnerungen, aber er sagte: „Wir müssen die Gemeinde neu vermessen!“

Die Freundin aus Berlin, Pädagogin mit Umsicht und Verantwortung, öffnete ihre „Bibel in gerechter Sprache“ dort, wo der rote Faden zu sehen war (den sie auch sonst in allen Gesprächen festhielt) schlug auf und sagte zur Fachfrau für Innovation: „Nimm und lies! Dies ist die Innovation, die helfen kann!“ Wir hörten die Stimme lesen: „Der Augenblick ist gekommen. die Zeit erfüllt: Das Reich Gottes ist nahe gekommen! Kehrt zum Leben um und glaubt an das Evangelium!“ Wir blickten auf die Lehrerin. Geduldig erläuterte sie: „Es sind die ersten Zeitworte des Evangeliums. Umkehren und glauben. Das sollte für heute genügen. Kann das einer aufschreiben?“

Wir ziehen einen Schluss: „Kirche“ – was sie ist, wie sie redet, wen sie repräsentiert, ist „protestantisch“ unklar, wahrscheinlich ein Geburtsfehler. Der Mönch, der Professor aus Wittenberg, hat keine Marketingkonzepte und keine Leitbilder entwickelt. Dafür war sein Widerpart Tetzel zuständig. Er hat dem Volk aufs Maul geschaut, nie nach dem Mund geredet. Er wollte das Volk Gottes lieber in Laubhütten lassen, nicht im März das Gras mit der Zange aus dem Boden ziehen. Nur der Auftrag war: Umkehr, Reformation. Nicht jeder Nachkomme Luthers besaß dessen Unerschrockenheit, nicht jeder Duodezfürst die Großmut Friedrichs des Weisen, manches Bekenntnis sank herab zur kirchlichen Kriegerinnerung und ehrwürdigem Mitbringsel des Glaubens. Nicht, wo Kirche ist, da ist auch Glaube, sondern wo Glaube ist, da findet er auch „Kirche“. Da hatte Luther keine Visionen, er freute sich über Lichtblicke. Was heute ärgert, ist die vielem kirchlichen Reden vorauslaufende Selbstverundeutlichung. Sucht man einen Arzt auf, der selbst andauernd sich krank meldet? Der Nerv des Umdenkens kann wie im Urchristentum, der Reformation, im Pietismus, in den Erweckungsbewegungen nur die Schrift sein, in der es heißt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes“ (Römerbrief 1,16).