8. Mai 2020, 75 Jahre Kriegsende. War der 8. Mai 1945 ein Nullpunkt? In den menschlichen Lebenslinien gibt es keinen Nullpunkt. Es gibt ein Nullpunkt-Gedicht: „Inventur“, 1945/1946 geschrieben von Günter Eich. „Inventur“ ist das Bilanz-Ziehen im Blick auf das, was geblieben ist, nachdem alles vorüber ist.
Einige Zeilen aus Günter Eichs „Inventur“
Dies ist meine Mütze im Brotbeutel sind
dies ist mein Mantel ein Paar wollene Socken
hier mein Rasierzeug und einiges, was ich
im Beutel aus Leinen niemand verrate..
Konservenbüchse Dies ist mein Notizbuch
Mein Teller, mein Becher dies meine Zeltbahn,
Ich hab in das Weißblech dies ist mein Handtuch …
den Namen geritzt. dies ist mein Zwirn
„Zwirn“ ist das letzte Wort. Das Zerrissene, das Getrennte muss wieder miteinander vernäht werden. In der Bibel gibt es nur ein Wort für Zusammennähen und Heilen. Darum geht es
seit 75 Jahren.
Unser Vater, segne unseren Schlaf und unser gestärktes Leben, das mit so vielen Menschen
verbunden und verflochten ist.
Quelle: H.W. Richter (Hrsg.), Deine Söhne, Europa, Gedichte deutscher Kriegsgefangener,
Nymphenburger Verlagsgesellschaft 1947, S. 17