Abendsegen | Sonnabend, 25. Februar

Was an Nachrichten jüngst auf uns hereingebrochen ist, hat viele Menschen bedrückt.
Vor einem Jahr fuhren Putins Panzer auf das ukrainische Land und seine Menschen los. Hinzu kamen die Meldungen der Corona-Krankheitsstände, begleitet von der Energie- und Klimakrise. Krieg, Krankheit, Klima – viele Menschen, darunter viele Kinder, wurden, mit einem alten Wort, trostbedürftig. Aber Trost kann man sich nicht selbst spenden. Man braucht einen Menschen, der zuhört, vielleicht das rechte Wort sagt. Wohl allen, die einen geschwisterlichen Rat erfahren haben, auch selbst geben durften, selbst geben konnten. Denn Sensibilität für einander darf ja nicht zu Lähmung oder Weltschmerz führen. Wer die Welt wirklich verbessern will, darf nicht in Schwermut untergehen, sondern muss mit einer gewissen inneren Robustheit Stärke des Herzens zeigen.
Heute feierten die jüdischen Gemeinden Schabbat. Ich erzähle eine Geschichte von Rabbi Sussja. Er hat alle Gebote erfüllt, er kommt zum Himmel, sein Name ist ins Buch des Lebens eingetragen. Da fragt ihn Gott nach der Stadt, aus der er kommt. „Hat sich dort nicht ein schreckliches Unrecht ereignet?“ „Ja, es war schlimm!“ „Hast du dagegen protestiert?“, fragt Gott. Sussja antwortet:
„Hätte es denn etwas genützt?“ Gott sagt: „Das weiß ich nicht. Aber vielleicht dir.“

Gott, unser Schöpfer, segne die Stunden und Tage, die vor uns liegen und lass immer wieder gelingen, dass wir einander zur Heimat werden.

Abendsegen | Sonnabend, 8. Oktober 2022

Die Woche ist zu Ende gegangen. Vieles lief ganz normal, man könnte sagen, wie selbstverständlich. Aber in einer sogenannten „ruhigen Minute“ geht einem doch durch den Kopf, ob denn das alles selbstverständlich ist? Es ist doch nicht selbstverständlich, dass ich heute morgen aufgewacht bin. Nichts ist selbstverständlich: Dass der Arm am Körper,
das Brot auf dem Tisch, die Zeitung im Kasten und das Geschenk am Geburtstag!
Selbstverständlich ? Meine Brille, die Bäume, die Demokratie, meine Geschwister, keine Folter, kein Hocken im Keller beim Raketenalarm – nichts versteht sich von selbst…
Behütet sein, keine Angst haben brauchen, auf dem Wochenmarkt grüne Heringe kaufen, das Meer, der Wald, die Therapeutin für die Füße, meine Freiheit, an die Ostsee zu fahren – alles selbstverständlich? Ich sage mal: So viel Gnade, so viel Segen, die mir aus irgendwelchen himmlischen Fenstern zugefallen sind– zugestanden ist mir keiner. Und die Erfahrung, es kommen neue Tage – zum Danken!

Der Schöpfer im Himmel sei uns gnädig und einen wohltuenden Schlaf schenke er uns, selbstverständlich ist er nicht…

Bücherbrief zu Weihnachten und Neujahr 2021/2022
Geschichte und Geschichten

Im stimmenstarken Chor all derer, die, kritisch beeindruckt, zustimmend bis aufgewühlt, in jedem Falle herausgefordert, das neue Porträt der Familie von Weizsäcker in dem Buch von

Fridolin Schley, Die Verteidigung, Roman, Verlag Hanser Berlin, 269 S., 24 Euro

gelesen haben, weist keine Stimme auf Enzensbergers „Hammerstein oder Der Eigensinn“ (2008) hin, was aus vielen Gründen nahe gelegen hätte: Deutsche Familiengeschichte in Generationen, hohe Repräsentanzaufgaben in Regierung und Militär, Distanz und Nähe zum NS und Zweiten Weltkrieg, Folgegeschichte BRD – eine Fülle höchst kontrastiver, aufregender Parallelen. „Hammerstein“ erlebte heftige Abfuhren von der Historiker-Zunft (Götz Aly wütete dawider).
Es mag sein, dass Fridolin Schley deswegen für seine Arbeit Roman als Genrebezeichnung nahm, während Enzensberger für Hammerstein „Eine deutsche Geschichte“ gewählt hatte; denn eine Geschichte war es, eine deutsche Geschichte auch… Das Urteil Hammersteins über die Deutschen im NS, 98 Prozent seien „eben besoffen“, wird kaum zu seiner Beliebtheit beigetragen haben. Anders bei den von Weizsäckers, wo ein Untertitel wie „ Der Eigensinn“ undenkbar wäre, greift doch Schley oft zu dem Bild „Er lavierte“. Der Verteidiger Hellmut Becker bedrängte von Weizsäcker, er solle bei der Urteilsverkündigung Überlegenheit zeigen, nicht Überheblichkeit, das führt uns mitten ins Problem, dem sich der Roman von Fridolin Schley widmet: Das – in seinem Schutzverhalten dem Vater gegenüber – so verstörende Selbstbild des Sohnes, das so schwer nachzuvollziehende Verhalten des Vaters. „The United States of America vs. Ernst von Weizsäcker et.al.“ heißt 1946 der Prozess offiziell, er wird auch „Wilhelmstraßenprozess“ und intern “Omnibusprozess“ genannt, weil hinter „et.al.“ bis zu 20 Personen standen. Hellmut Becker hatte als Beistand in die „Verteidigung“ einen Sohn des Angeklagten, Richard von Weizsäcker, hinzugenommen. Es geht also nicht um Schach wie in „Lushins Verteidigung“ (Nabokov), sondern um den Nachfolgeprozess zum Nürnberger Prozess von 1945.

Seit der Apologie des Sokrates von Platon ist der Prozess das Ideal der öffentlichen Wahrheitsfindung. Die (untauglichen) Versuche, einen „Prozess Jesu“ zu rekonstruieren, der „Auschwitzprozess“ (Peter Weiss), nicht zuletzt die „12 Geschworenen“ (Lumet/Fonda) als Glanzstück Hollywoods, zeigen das Drama der Wahrheitssuche als anhaltend aktuell; genial aufgenommen von Franz Kafka, einmal im „Prozess“ und einmal im „Brief an den Vater.“ Schley wollte seinen Text erst „Befragung“ nennen, doch die innere wie äußere Dramatik der Geschichte reichte weiter, dazu war die geistige Situation Deutschlands in den ersten Nachkriegsjahren zu aufregend, ihr prägendes Personal zu bestimmend: Die Herren Wurm, Dibelius und Heuss stützen von Weizsäcker, Margret Boveri schreibt, Robert Kempner klagt an, das Ausland stellt die Kameras auf und der Sohn hilft, den Vater zu verteidigen. Ernst von Weizsäcker, seine Person steht für die Existenzfrage jener Jahre: Widerstanden oder mitgemacht? Es geht um den ranghöchsten Diplomaten eines Unrechtsstaates… Was hat er gewusst, was hat er befördert, hat er mitgemacht? Eine Frage, in der „Deutschland“ sich selbst vor Gericht gestellt sah. „Ich habe nichts mitgemacht, ich habe einen Total-Widerstand geleistet, insgesamt bis an den Rand meiner Möglichkeiten. Das nenne ich nicht mitgemacht.“ Damit ist der Nerv getroffen, damit ist der um Empathie bemühte und immer wieder befremdete Sohn Richard an jedem Prozesstag beschäftigt.

Hier liegt die Stärke des Buches: Sich einfühlen in das Denken, Handeln und Nicht-Handeln, in die Sprache und das Schweigen des geliebten Vaters, sein quälend-unbegreiflicher Ausfall an Empathie in der Menschenfeindlichkeit der NS-Welt, die er als höchster Diplomat des „Reiches“ repräsentierte. Der Sohn leidet an dem so schwer nachvollziehbaren Selbstbild des Vaters, seiner schier unerträglich vernebelnden Diplomatensprache bis in das Labyrinth der nichts und alles aussagenden Mini-Kürzeln. Und da gibt es so viele tödliche Texte, die am Ende ein „W.“ tragen. Julia Encke spitzt es zu (FAZ): „Widerstand durch Mitmachen?“ Soll es das gewesen sein? Eine geniale Lösung, nur dass es einem die Kehle zuschnürt. Im biblischen Hebräisch gibt es nur ein Wort für Kehle und Seele. Widerstand durch Mitmachen! Die emsige Persilschein-Industrie lief an…
Schley erzählt knapp, verdichtet, diskret, fragend-tastend, mit großen Bögen ins „Heute“, setzt an zu atemberaubenden Porträtskizzen, unter denen Hellmut Becker (ab 2. Mai 1937 NSDAP-Mitglied), der in der späteren Bundesrepublik als Bildungspolitiker Karriere machte, am schärfsten gezeichnet ist. Sein Plädoyer gipfelte in den Worten: „Weizsäcker…ein Christ, ein Diplomat im besten Sinne des Wortes, ein wahrer Patriot“. Dass er Thomas Mann ausbürgern wollte, war Becker neben so vielem anderen irgendwie entgangen. Ein Glanzstück für jedes politikwissenschaftliche und historische Hauptseminar! Schleys Buch über Schuld und Unschuld, Opfer und Täter, Moral und Gewissen ist eine fragende Erkundung; sie beginnt mit dem biblischen Satz „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Dank Schleys Arbeit ist wieder darauf zu hoffen.

Am 1. April 1938 war von Weizsäcker in die NSDAP eingetreten, wurde Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in die SS aufgenommen, später SSBrigadeführer samt Totenkopf-Ehrenring und SS-Degen – offenbar ein verlässlicher Mann der Macht. Wir wissen nicht präzise, wo er und mit welchen Kenntnissen er den Februar 1933 verbrachte, offiziell Gesandter in Oslo. Ob er vom blitzschnellen Verjagen der deutschen literarischen Elite im Februar 33 nichts erfahren hatte? Den Taliban in Kabul gleich, trieb die neue Macht in wenigen Wochen die tonangebenden Stimmen in Literatur, Theater und Presse in die Flucht, ins Untertauchen, in katastrophische Kälte, zu lesen bei


Uwe Wittstock, Februar 33, Der Winter der Literatur, Verlag C. H. Beck ,
288 S., 24 Euro

„Berlin, 7.2. 1933 – Mein liebes Kind! Grippewelle u. Heil Hitler beherrschen den Markt…die Grippe ist sehr schlimm. Humlis Klasse ist schon 2 Wochen geschlossen, er selbst gesund u. sehr vergnügt ob der Extraferien…ich war letzten Montag im Faust u. schaute in der Pause auf den Gendarmenmarkt hinunter, da zogen unabsehbare Fackelzüge nach den Linden.

Eine Stunde später, in der 2. Pause, zogen sie noch immer. (Wo hatten die Nazis so schnell 20 000 Fackeln her?). Sonst aber herrscht eigentlich Ruhe…“ Betty Scholem schreibt ihrem Sohn Gershom (Gerhard) nach Jerusalem, wie sie den 30. Januar erlebt hat, äußerlich beruhigt, zwischen den Zeilen zittern Ahnungen. (Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946, C.H. Beck, 579 S.).

Uwe Wittstock erzählt den gesamten 30. Januar unter der Überschrift „Die Hölle regiert“: Joseph Roth nimmt sofort am Morgen den Zug nach Paris, Egon Erwin Kisch trifft in Berlin ein, Klaus Mann verlässt die Stadt, Georg Kaiser und Hermann Kesten lesen die BZ-Schlagzeile „Adolf Hitler, Reichskanzler“, Carl von Ossietzky verlässt die U-Bahn, um sich den Nazi-Rummel anzusehen, Hermann Kesten und Erich Kästner bereden die mögliche Flucht in der Weinstube Schwanneke, Harry Graf Kessler sieht vorm Hotel Kaiserhof die Nazikolonnen marschieren, Hitler befasst sich mit dem Gerücht, Hammerstein wolle gegen Hindenburg putschen…so geht es über Stunden am 30. Januar, präzise literarische Miniaturen in rascher Folge, gleich packenden Filmsequenzen. Wittstock beginnt sein Buch mit einem erzählenden Großphoto vom alljährlichen Presseball am 28. Januar auf dem sich tout Berlin trifft…und endet am 15. März. Besondere Aufmerksamkeit erhalten Else Lasker-Schüler, Ernst Toller, Carl von Ossietzky, Nelly und Heinrich Mann, Thomas Mann, Gottfried Benn, Vicky Baum, Alfred Döblin, Ricarda Huch (!), Gabriele Tergit, Oskar Loerke, Erich Mühsam, Bert Brecht und die wichtigsten Stimmen der Preußischen Akademie der Künste, deren Um-Fall zu den beschämendsten Kapiteln der rigorosen Gleichschaltung gehört. Deutschland hat sich von dem faschistischen Furor im Februar 33 nicht mehr erholt – und Wittstock lässt es miterleben, mithören, mitlesen, aber auch mitaushalten?
Hermann Göring, preußischer Innenminister nannte die Ziele der Naziherrschaft: „Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristische Bedenken. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!“ So geschah es. Es gingen so viele, mit Schirm und kleinem Koffer, um nicht aufzufallen…Von Seite zu Seite denkt man: Was geschähe heute in ähnlicher Lage? „Widerstand durch Mitmachen?“ Der „rasenden Verwandlung Deutschlands in eine Hölle aus Diktatur und Terror“ (Sten Nadolny), dem „Winter der Literatur“ , dem „furchtbaren Augenblick“ (Lessing) ist Uwe Wittstock gerecht geworden. Respekt!

Günther Rühle gebührt dieser Respekt in gleicher Weise für seine großartigen Arbeiten zur deutschen Theatergeschichte: „Theater in Deutschland 1887-1945“ , ein Grundlagenwerk. Ohne ihn wären Marieluise Fleißer und Alfred Kerr kaum erkennbar geblieben. 25 Jahre war er prägender Redakteur im FAZ Feuilleton, später beim Tagesspiegel. Frontenwechsler als Intendant in Frankfurt. Respekt soll ihm gezollt werden für etwas Außerordentliches, Unglaubliches, Einmaliges: Ein 96jähriger schreibt ein Tagebuch!

Günther Rühle, Ein alter Mann wird älter. Ein merkwürdiges Tagebuch, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Ahrens, Alexander Verlag Berlin, 232 S., 22,90 Euro

Ein Mensch, der sein Leben mit kritischem Hinsehen, mit dem analytischen Blick auf die Bühne, verbracht hat, verliert die Sehkraft – „trockene Makula“ und die technisch-digitale Welt verliert ihre Konturen. Computertastatur, Radio, Faxgerät, CD-Plattenspieler, Mikrowelle mit ihrer Knopfleiste – „Auftauen“ – das zunehmend tastende Bewegen in der Wohnung, das alles muss bewältigt werden. Kleine Katastrophen zuhauf. Nun sieht er nur noch ein Ziel: „Ich wehrte mich gegen das Veraltern im Alter“, das Gefüttert-Werden, wie es den verehrten, großen klugen Köpfen widerfuhr, Walter Jens und Joachim Kaiser. Nun kämpft er gegen das „Ent…“, entbehren, entsagen, enthalten – bis zum entsorgen? Währenddessen strömen die Erinnerungen an die Kindheit, die Kollegen, die Künste. Er schreibt ein in des Wortes erster Bedeutung „merkwürdiges“ Tagebuch, vom Oktober 2020 bis zum 27. April 2021. Uneitel, voller Anekdoten, mit ironischer Milde, antinarzistisch, verstört, aber klaglos, plötzlichen Kindheitssignalen, alltagsreal: „Seit ich nicht mehr lesen kann, haben die Tage mindestens 47 Stunden.“ „Das Altern ist eine Blüte der Hoffnungen im Zustand des Schrumpfens. Ich habe mich heute in ein Schwimmbecken von Hoffnungen gestürzt und jetzt läuft irgendwo das Wasser weg…“
Gerhard Ahrens hat aus allem ein „Tagebuch“ werden lassen, gerahmt, mit Anmerkungen gestützt und herausgegeben samt einem Nachwort „Der andere Günther Rühle“ – eine des Dankes werte Assistenz! Wie mag es Günther Rühle heute gehen? Er ist Jahrgang ’24…Im Alter nicht veralten! Danke für diesen Anstoß!

Dies Problem besteht für die Autorin, die wir jetzt vorstellen wollen, in keiner Weise! Es heißt, Juden seien Menschen wie alle anderen auch – nur ein wenig mehr. Das ist nicht überheblich, sondern selbstironisch, wie überhaupt kein Volk der Erde sich mit seinem Witz so umfassend über sich selbst lustig macht wie das jüdische. (Das kann auch gefährlich werden, wenn Antisemiten anfangen, jüdische Witze zu benutzen…) Im Alter veralten? Das kann nicht sein für Lizzie Doron, deren so mündliches, so fragendes, so streitendes, so herzzereißendes, so liebendes Buch wir hier vorstellen, nein, Ihnen ans Herz legen wollen.

Lizzie Doron, Was wäre wenn, Roman, Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Deutscher Taschenbuchverlag, 144 S., 18 Euro

Sie ist 1953 in Tel Aviv geboren (heute mit Zweitwohnsitz in Kreuzberg) und erzählt mit ihrer Lebensgeschichte die Geschichte des Staates Israel. Dieses Viertel in Tel Aviv hat sie geprägt: „…in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, geht man nicht verloren. Der Mann aus Sobibor kennt die Frau aus Bergen- Belsen gut, und sie bringt mich zu der Frau aus dem Ghetto Krakau, die mich schließlich zu der richtigen Mutter aus Auschwitz zurückbringt.“ Ihre Eltern sind Schoah-Überlebende, vor allem mit der Mutter bringt das Generationenkonflikte. Lizzie – in der Grundschule wurde aus Elisabeth Alisa, später Lizzie – ist träumend-leidenschaftliche Zionistin und gerät mit der Mutter aneinander: „Ein unsagbar schönes Leben liegt vor uns, und nur meine Mutter verdirbt die Stimmung. ‚Was ist denn würdiger als die Heimat?‘, halte ich ihr vor. ‚Wem sonst sollen wir unser Leben widmen?‘ ‚ Wenn…‘, sagt sie, aber ich fahre ihr gleich über den Mund. Ich weiß, sie will sagen, wenn ich im Holocaust gewesen wäre, würde ich sie verstehen. ‚Ist es das, was du willst?‘, stichle ich. ‚Dass ich auch an deinem Holocaust teilnehme?‘ ‚ Die Mutter, traumatisiert, der Erinnerungen voll und von Opfererfahrungen gezeichnet – die Tochter, bereit zu Stärke, Aufbau, Verteidigung und Überlebensenergie – die Generationen dürfen nicht zerreißen! Ein Anruf aus dem Krankenhaus versetzt den Alltag in heftige Schwingungen, Yigal, die frühe und nie ganz vergessene Liebe, liegt im Sterben und bittet um eine letzte Begegnung. Yigal, er war Nähe und Horizont aller Wünsche und Träume, mit dem Zeug zum Generalstabschef und heute Friedensaktivist. Er wird sterben und sie geht aus dem Krankenzimmer, sein „Danke“ im Ohr, und sagt“ ‚Bye‘ – als würden wir uns morgen wiedersehen.“

Damit beginnt das Buch der Erinnerungen, der Lebenskorrekturen, Kriegserlebnisse, der vielen Lebensschwingungen in einem kleinen Land, dem die Schatten der Vergangenheit die Horizonte der Zukunft noch immer nicht leuchten lassen. Lizzie Doron erzählt unbeirrbar, unbezwingbar, unbeeinträchtigt, zutiefst menschlich, geschwisterlich und mit unverwandtem Blick auf eine mögliche Mitarbeit am Frieden. „Wenn ihr es wollt, ist es kein Märchen“, war die zionistische Verheißung, „Was wäre wenn…“ bleibt die Aufgabe.

Hat heute Lizzies Doron eine Zweitwohnung im Westberliner Kreuzberg, weil ihre Mutter noch in Polen von einem Studium in Berlin träumte, so verbindet Barbara Honigmann mit Ostberlin ihre Kindheit, Schulzeit, Studium und erste berufliche Praxis. Ein wenig kennen wir die Ostberliner Situation der Kinder zurückkehrender jüdischer Emigranten aus den Büchern von Irina Liebmann.

Die Eltern kamen als Juden aus englischem Exil zurück und gingen wie selbstverständlich in das „andere Deutschland“ mit seinen kleinen nichtjüdischjüdischen Gruppen. Heute wohnt Barbara Honigmann in Straßburg, deren jüdische Gemeinde ihr wohltut. Welcher Strömung innerhalb des dialogfreudigen Judentums gehört sie an? Liberal ? Modern-orthodox ? Darauf geht sie in einem wunderbaren kleinen Text ihres neuen Buches ein:

Barbara Honigmann, Unverschämt jüdisch, Hanser Verlag, 159 S., 20 Euro

Das Buch sammelt Dankesansprachen, deren Anlass Preisverleihungen waren, von denen sie viele erhalten hat, so viele, dass ein eigener Band sie sammeln konnte. Mit selbstgewisser Mündlichkeit spricht sie über Menschen, Themen und Orte, die mit den Auszeichnungen verbunden waren. Darunter auch den kleinen Text „ Das Problem mit der Kopfbedeckung“. Sie fühlt sich einer Gruppierung nahe, die schomer mitzvot in der Lebenspraxis üben, „ das heißt, uns ohne übertriebenen Eifer darum darum bemühen, die Gebote und Verbote zu beachten.“ Dabei werden sie Grenzgängerinnen zwischen den tonangebenden Traditionen – ein sehr bewusst gelebtes Judentum. Dem entsprechen viele der Reden, mag es um Ricarda Huch oder Elisabeth Langgässer gehen, um Jakob Wassermann oder das Paar Kafka und Proust, um „Erinnerung und Erzählung“, stets steht die Frage nach dem „un-verschämten“ Judentum im Zentrum.
Sartres „ Betrachtungen zur Judenfrage“ waren 1963 bei Ullstein erschienen, das Bändchen wurde von Westnach Ostberlin durchgeschmuggelt und die vierzehnjährige Barbara Honigmann entdeckte, dass der Titel „Juif inauthentique“ mit „verschämter Jude“ übersetzt worden war. „Inauthentique“ ist nicht „verschämt“ – sondern „authentisch“, besser: kräftiger, klarer „un-verschämt“! „Wahrscheinlich ringe ich seit meiner Lektüre dieses Buches als 14jährige damit, mein Judentum, in das ich hineingeboren wurde, un-verschämt zu leben und schließlich, erwachsen geworden, auch so davon zu sprechen, zu erzählen, zu schreiben“. Und angesichts der erworbenen Selbstgewissheit und ausstrahlenden Freude, mit der sie das tut, kann man sich nur verbeugen, ihr zuhören und viel von ihr lernen! Vielleicht auch die charmante Gelassenheit? „1700 Jahre Judentum in Deutschland“ – welch ein Geschenk!

Ein Geschenk in finsteren Tagen ist auch das „Szenario“, das für die Pandemie-Plagen wie gerufen erscheint:

Ljudmila Ulitzkaja, Eine Seuche in der Stadt, Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, Hanser Verlag, 112 S., 18 Euro

Es ist Pandemiezeit, man bleibt besser zu Hause. Ljudmila Ulitzkaja nutzt die Zeit zum Aufräumen alter Papiere. Da fällt ihr ein Manuskript von 1978 in die Hände, „Tschuma“, heißt es , „Die Pest“ – ein Pestausbruch in Moskau, der dank einer dichten Schweigemauer und des extrem effizienten NKWD nahezu unbekannt geblieben. Der Vater einer Freundin war als Pathologe an den Ereignissen beteiligt – er erzählte davon…und Ulitzkaja als interessierte Genetikerin nahm den Stoff auf, entwarf ein „Szenario“ und bewarb sich damit für einen Drehbuchkurs. Der Text verschwand in der Schublade – bis sie ihn wieder entdeckte, sehr zeit-gerecht, überaus aktuell. Da aber gerade Camus‘ „Pest“ ständig gedruckt wurde, bekam Ulitzkajas „Tschuma“ den Titel „Eine Seuche in der Stadt“; sehr zutreffend und mit dem Wort „Seuche“ dicht an der drohenden Moskauer Katastrophe. Karl Schlögel hat in „Traum und Terror“ die Jahre 1938/39 in der UDSSR mit ihren alptraumhaften Prozessen und Säuberungen beschrieben.

„Schwarze Raben“, die Verhaftungswagen des NKWD fuhren zu vielen Adressen, zu denen der schon Infizierten und zu denen der bald Inhaftierten. Die Prozess-Schatten fallen auch in die Pestbekämpfung. Was war geschehen? Ein Forscher hatte sich, irritiert durch einen Anruf, der ihn nach Moskau beorderte, unversehens angesteckt, war auf der Reise vielen Menschen begegnet, in Moskau mit Kollegen Gespräche geführt, erkrankte augenfällig und allen Beteiligten war klar: Pest! Mit unvorstellbarer Rasanz geschieht nun eine Totalabsperrung, sämtliche denkbare Quarantänemaßnahmen werden ergriffen, die Kontaktverfolgung des Infizierten vollzieht sich mit dem NKWD-Apparat perfekt und hocheffizient. Spätestens jetzt ist es unmöglich, beim Lesen zu unterbrechen. Dann tritt auch ein „Sehr mächtiger Mann mit georgischem Akzent“ auf, der kabarettreif sagt: „Gut! Wir helfen. Bei den Listen und auch bei der Liquidierung‘. Der Volkskommissar erstarrt. ‚Nein, nein, es geht nur um Quarantäne. Nicht um Liquidierung’“ Es gibt groteske wie beklemmende Szenen. Der vollständige Staatsapparat wird vorgeführt, noch immer ein Alptraum. Es gibt Helden, Bösewichte und Ungerührte. Der Text ist keine Blaupause für heute, dennoch geben wir Ljudmila Ulitzkaja das Schlusswort „Die Welt verändert sich auf unvorhersehbare Weise, und ich hoffe, dass diese neue Prüfung…uns nicht noch weiter voneinander trennt, uns nicht noch egoistischer macht, sondern im Gegenteil zu der Ansicht führt, dass es in der globalisierten Welt zu viel Hass und Brutalität gibt und zu wenig Solidarität und Mitgefühl. Das aber hängt von uns ab.“

Ein kleines Geschenk – mit Klugheit und Liebreiz

Eine Geschichte zu erzählen bedeutet, all die Bruchstücke der Welt – Erfahrungen, Träume, unverhoffte Begegnungen, gelungene Zeiten des Glücks – zusammenzufügen. Das gelingt am ehesten mit einem liebevollen Blick, einer behutsamen Zuwendung. Die erste Leistung einer Erzählung ist, dass sie Entferntes herbeiholt. Geschehenes in die Gegenwart holt. Geschieht das bei biblischen Geschichten und wird die größte Unfallursache beim Erzählen, die gute Absicht, vermieden, kommt es zu lebhaften Entdeckungen. Das ist geglückt in dem Band

Die Bibel und ihre kühnen Geschichten, Das 1. Buch Mose, für Kinder zwischen 12 und 120 Jahren erzählt und illustriert von Peter von der Osten-Sacken, Kulturverlag Kadmos, 153 S., 19,90 Euro

Nacherzählen heißt neu erzählen und so heißt es zu Beginn: „Für Leo, Carlo und Hannah“, Enkel sind oft erste Adressaten…Ein jüdischer Geburtstagsglückwunsch heißt „Auf 120 Jahre!“ – so wird die Erzählung allen Altern empfohlen! Man möchte gleich den Eingang „Der erste Tag der Schöpfung“ zitieren, weil mit dem „Anfang“ schon der erzähllustige, mithörend-fragende, lehrend-heitere, Kenntnis verschenkende, liebevoll-deutende, Antworten erprobende und mit suchbereiterstauntem Humor der Ton angegeben wird. Nie „gute Absichten“, nie fade vorhersehbar, im Gegenteil: mit solidarischer Detektivarbeit beim Begreifenwollen, beim lupennahen Mitlesen ist der Erzähler den Mithörenden nahe und weiß manchmal selber nicht, was „hat es zu bedeuten“. Der Erzähler als Mithörer, der nie das Perfekt wählt und damit alles weiß, sondern das Im-perfekte, das Unabgeschlossene scheint ihn wie die Lesenden nicht loszulassen. Da gibt es bei den sieben Schöpfungstagen so viel zum Kopfschütteln und Kopfnicken, Kopfsenken und Kopfheben, dass man nur rufen kannn: „einen Einser für den Schöpfer der Welt!“ Es wird auch oft leise beim Erzählen, ein verschwebendes Schweigen…Man hat gesagt, Literatur gründe auf liebevoller Zuneigung, ja, und hier kommen die von Behutsamkeit erfüllten, zärtlich hingetupften, dazwischen geschubsten Illustrationen hinzu, die vieles anschaubar, ansehnlich machen. Der Ordinarius, der „Hoch“-schullehrer für Neues Testament und Jüdische Studien, verlässt seinen Lehrstuhl und setzt sich in den Kreis jüngerer und älterer Zeitgenossen, hört mit, denkt mit und teilt mit – hier und da aus dem Schatz des Erlernten – zu Nutzen und großer Freude aller Generation.

Unter der Leselampe Ostern 2021

Jay H. Geller Die Scholems, Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie
Suhrkamp und Jüdischer Verlag, Frankfurt 2020, 463 S., 25€

Ein Familienroman? Der Titel erinnert an die Buddenbrooks, Die Brüder Karamasow, Gruppenbild mit Dame; ein Mehr-Generationen-Roman? Gershom und seine Brüder?
Das Buch beginnt wie die Buddenbrooks mit einer Familienaufstellung. Aber: Der Autor Jay H. Geller ist Professor für politische Geschichte an der Universität von Cleveland, Ohio, US, und hat zuvor quellenreiche Studien über Juden in Deutschland vorgelegt. Was genau ist dieses Buch also? Eine lebhaft dramatische Familienbiographie oder eine brillant präzise Sozial- und Mentalitätsgeschichte des deutschen Judentums? Die große und beglückende Überraschung besteht in der gelingenden Zusammenfügung, in dem spannungsvollen Verweben beider Erzählstränge: Familie und Fachanalyse, der liebevollen Nachzeichnung der höchst eigenwilligen Brüder und ihrem untrennbaren Zusammenhalt, dem Bild der alles zusammenhaltenden Mutter, vor allem der Söhne mit ihrer nicht zu dämpfenden Widerborstigkeit gegenüber den Eltern und einander – da sind: ein glühend liebender Erforscher jüdischer Mystik, ein hitzköpfiger kommunistischer Reichstagsabgeordneter, der beim Familienfest zum Kaisergeburtstag „Hoch Liebknecht!“ ausruft und vom tobenden Vater, einem von Grund auf konservativen, deutschen Juden des Kaiserreiches, vor die Tür gesetzt wird, ein national-liberaler Geschäftsmann, der im australischen Exil noch in den Krieg gegen Deutschland eintreten würde und ein national-konservativer, säkular gesinntenr Bruder, der jedoch in der jüdischen Tradition beerdigt werden will – und deren Gattinnen… Dies pointiert gezeichnete Familienporträt setzt der Autor in das kulturpolitisch sorgsam ausgemalte Landschaftsbild der Jahre vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, in der fast keine Spuren mehr der Scholemschen Familiengeschichte zu finden sind – im Gegensatz zu den fast nicht mehr überschaubaren Hindenburgstraßen und Hindenburgplätzen…
Wie es Geller gelingt, diese Kapitel voller Zahlen, Ereignisse, Orte und Widerfahrnissen mit den Fäden der auseinanderstrebenden Lebensläufe zu verknüpfen, ist bewundernswert und lässt uns nur mit Herzklopfen umblättern. Angesichts der bewegenden Lebensbilder lernt man den datendichten Kontext und die genau gesetzte Zahlenfülle mühelos mit. Die Übersetzerin Ruth Keen und der Bearbeiter Erhard Stölting haben gewiss ihren Teil zum Narrativen einerseits und zum Dokumentierenden andererseits beigetragen. Die 130 gedrängten Seiten Anmerkungen sind eine vorzügliche Anleitung, mehr noch, eine verführerische Anleitung zum Geschichtsstudium in einer Stadt wie Berlin.
Geller gewinnt seine erzählerische Einfühlungskraft, Aura, Töne und Farben aus dem herzbewegenden Briefwechsel, an den wir hier noch einmal erinnern: Betty Scholem-Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel 1917-1946 und der unvergleichlichen Berliner Kindheit um 1900 von Walter Benjamin.
Die Erzähl- und historische Entfaltungsmelodie kann sich dem Satz Kafkas nicht entziehen, der in genialer Verdichtung das Judentum begreift, sich begreift: „Sein bedeutet im Deutschen beides: Dasein und Ihm gehören“. Das und ist das Offenbare des Judentums: Im Dasein, in der Welt sein und Gott allein gehören. Da ist wohl der Grund des Verhasstseins, das Nie-Eingehen in eine andere nationale, politische, ideologische oder kulturelle Für-Immer-Bindung. An der Scholem-Geschichte kann man es sehen und lernen: In der Welt leben und ausschließlich Ihm gehören – mit allem Schmerz und Verfolgung und nie aufzugebender Bindung an Ihn…Geller erzählt und entrollt historisch ein weiteres Mal diese Lektion, Zeile für Zeile.
„1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ – gegenwärtig wird es mehr beschworen als erinnert. Dieses Buch nimmt es im buchstäblichen Sinne wahr.
Diese Stärke der großen Studie erweist sich dem betrübten Kritiker der FAZ als Schwäche. „was…allein trübt, ist die Neigung zur anteilnehmenden Beobachtung…“.

Anteilnehmende Beobachtung – nein, unbeeindruckte, unberührte Wissenschaft heilt nicht alle Wunden, dagegen sind Anteilnahme und Empathie der Herzschlag der Darstellung, so wie es schier ausgelassen, gut gelaunt, verständnisvoll, erzähllustig, unbeirrt witzig und herzenswarm bei dem 100 Jahre alt gewordenen, osteuropäisch verwurzelten amerikanischen Juristen geschieht:

Benjamin Ferencz, Sag immer deine Wahrheit, Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben,
Heyne Verlag München 2020, 160 S., 17€

9 Lessons for a Remarkable Life, der originale Titel macht es einerseits noch hörbarer, das bemerkenswerte Leben, das Ferencz keineswegs trumphaft meint, sondern mit viel Ironie und Schalk, während der deutsche Titel Sag immer deine Wahrheit ihn, Ferencz, treffend zur Sprache bringt. Unter den Hundertjährigen, die gegenwärtig die literarische Welt bevölkern, ist er derjenige, der am meisten erlebt und zu erzählen hat, lebhaft, liebenswert schnoddrig und in weiser Weise hilfsbereit – ein 160 Seiten starkes wohltuendes Schmerz- und Stärkungsmittel, dreimal am Tag 5 große Esslöffel, ohne Cortison, pardon, 20 Seiten täglich, bei umwerfend bester Laune und sehr ernst – eine Mischung, zu der man wohl 100 Jahre braucht. Als Kind muss er schon so gewesen sein. Von wem ist die Rede?
Der Einwanderungsbeamte auf Ellis Island fragte die Eltern, nach einem Blick in das Babykörbchen, „Name?“ Die Eltern konnten nur Rumänisch und Jiddisch und sagten Berell. Der Beamte verstand Bella, blickte wieder ins Körbchen und entschied „4 Monate“. So wanderte Benjamin Ferencz unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Vereinigten Staaten ein als vier Monate altes Mädchen. Das erfuhr er durch Zufall an seinem 84. Geburtstag.
Da hatte er schon einiges Bemerkenswertes getan für sein Land? Ja, auch, mehr aber für die Menschlichkeit allerorten, vor allem aber als Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen bis zur Gründung des internationalen Strafgerichtshofs. Die Kapitelüberschriften reihen Köstlichkeiten aneinander: Die Augen offen, die Hände am Steuer (Schlusskapitel! Er ist Hundert!), Über die Wahrheit – sprich sie aus, auch wenn niemand zuhört, Man muss nicht mit dem Strom schwimmen, Der Weg ist immer steinig und führt niemals geradeaus, Es gibt Wichtigeres, als die Welt zu retten. Ferencz lebte, handelte, schrieb und prozesssierte nach einem Prinzip: Wenn es um Menschlichkeit geht, gib es kein Wenn und Aber. Es durchzieht das Buch des Hundertjährigen wie ein Wärmestrom: Wie heilt man ein gebrochenes Herz? Diese Frage ähnelt der nach einer friedlichen Welt. Es gibt auf beide eine 10 Bände umfassende Antwort und eine, die nur aus einem Wort besteht: langsam. So erzählt er dahin: klug, warmherzig, erfahren und freundlich.
Über seine Frau sagt er: Dass ich ihre Zuneigung gewonnen habe, betrachte ich als meinen wichtigsten Sieg. Wir verdanken auch ihr dieses Buch! In Stunden der Einsamkeit, der Resignation und der Enttäuschungen zu Ferencz greifen, denn er kann einen Rat geben! Die besten Eigenschaften, die ein Mensch haben kann, sind Redlichkeit, Warmherzigkeit und Toleranz. Tu niemals etwas, für das du dich schämst!

Einer, dem dies in vielen Lebensstationen, an Lebensorten und mit Lebensgefährten zum Gewissenswort wurde, ist Paul Celan. Ins Jahr 2020 fielen sein hundertster Geburtstag und sein 50. Todestag – die literaturgeschichtliche Aufmerksamkeit für ihn wächst und wächst. Celans Wörterleuchten (Peter von Matt) bringt eine nachempfindende, nachhörende, nachdenkende, nachvollziehende Literatur der klügsten Köpfe hervor. Der Czernowitzer Literaturprofessor Peter Rychlo – mit dem Czernowitz zu erkunden und die Lebensorte von Paul Celan und Rose Ausländer, ich schon die große Freude hatte – hat nun etwas anderes getan als Gedichte zu interpretieren, er lässt Menschen zu Wort kommen, die Celan begegneten:

Mit den Augen von Zeitgenossen: Erinnerungen an PAUL CELAN, hrsg. von Petro Rychlo,
Frankfurt a.M., 2020, 469 S., 28€

Von den Spielgefährten aus der Nachbarschaft in Czernowitz bis zu den Zeitgenossen, die von seinem Tod erfahren, versammelt Rychlo 55 Stimmen (!) aus den Phasen und von den Orten seines Lebens, darunter ein Bericht über seinen Berlin-Aufenthalt im Dezember 1967, zu dem, wie Marlies Janz sich erinnert, „eine Fahrt durch das verschneite Dahlem über Grunewald und Halensee und hinunter (!) zum Savignyplatz“ gehörte. Eine Lesung in der vollbesetzten Akademie der Künste konnte ich besuchen, erinnere mich aber an kein Gedicht, nur an den schmalen, gebeugten Mann, der mit einer schmalen Aktentasche die Stufen zur Bühne etwas mühsam hinaufstieg und dann mit einer halb singenden Stimme zu lesen begann.
Es sind die Lebensorte Czernowitz, Bukarest, Wien und Paris, die Celans Leben prägten, unter denen Czernowitz in den sechziger Jahren fast eine mythische Bedeutung hatte; vom Bukarester literarischen Leben wusste man nichts – diese Orte und ihre Büchermenschen zu erschließen, kommt für uns der Entdeckung literarischer Provinz gleich. Jacques Derrida, Paris, und Ilana Shmueli, Jerusalem, sollten hervorgehoben werden, was gegenüber allen anderen Stimmen ungerecht ist, pardon, doch ist ihr Blick auf Celan, seine Sprache und seine Bilderheimat unvergleichlich eindringlich. Rychlo fügt einen hundertseitigen Kommentar hinzu, sein unverwechselbares Celan-Bild, geprägt vom lebenslangem Wohnen in Celans Werk und an seinem ersten Ort.

Da die religiösen Spuren, Anklänge und ahnungstiefen bibelnahen Worte Celans in heutigen Interpretationsansätzen völlig umgangen werden, soll zumindest auf einen Versuch hingewiesen werden, der auf das Sprechen Celans nach der Shoah hören will:


Jan-Heiner Tück, Gelobt seist du, Niemand – Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Herder Verag, Freiburg, 2. Aufl., 2021, 352 S., 28

Unter den Beiträgen des katholischen Dogmatikers in Wien sind hervorzuheben: Beten nach der Shoah und Totengedenken und Lobverweigerung. Er diskutiert die Frage, ob der Zyklus Niemandsrose eine Anti-Bibel ist. Für die Theologie ist Celans Dichtung gegenwärtig die ernsthafteste Herausforderung. Die Lobverweigerung ist eine elementare Anfrage an kirchliches, aber auch politisches Sprechen. Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache – Wilhelm von Humboldts starker Satz vor der Berliner Akademie 1820 wird im Werk Celans deswegen so andrängend, weil ihm die Sprache ausgeht, was auch durch Übertreibung einer bloß kommunikativen Funktion und einen – digital verschuldeten – falschen Purismus
nicht behoben werden kann. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant, früher Freie Universität Berlin, warnt vor einer Sprachdämmerung, weil nur eine globale Sprache Macht verspricht. Da kann eine gewisse heitere Souveränität im Umgang mit der Sprache geradezu erlösend wirken und aufatmen lassen. Wir wussten schon immer. An ihren Adjektiven sollt ihr sie erkennen und dass die rückhaltlosen Aufklärungen, die Frau Klöckner bei allen Lebensmittelskandalen versprach, schon mit dem Aussprechen jeden Rückhalt los waren. Beginnen wir alt-modisch mit dem Stil, Stilkritik und einer genussvollen Stil-Lehre aus dem literarischen Hause Maar: Frau Nele Maar ist Kinderbuchautorin, Tochter Anna desgleichen und von Vater Paul und Sohn Maar liegen gegenwärtig zwei Bücher vor.

Michael Maar, Die Schlange im Wolfspelz, Das Geheimnis großer Literatur,
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, 658 S., 34€

Paul Maar, Wie alles kam, Roman meiner Kindheit, S. Fischer Verlag, 304 S., 22€

Paul Maar ist der einzige deutsche Autor, der im direkten Vergleich mit Donald Trump fröhliche, lebhafte Stürme auf das (Dahlemer Kino) Capitol erzeugen konnte, wo das kleine Sams zu sehen war, sein liebenswürdiges Kinderbuch. Gute Mär von Paul Maar, böser Krampf von Donald Trump. Hier hätte sein Sohn gleich eingegriffen, denn solche gezwungene Reime sind schlechter Stil! Und dem widmet er ein Stil-Lesebuch mit exemplarischen Texten von Knef bis Kafka und vielen Autoren aus seiner höchst privaten Lieblingsbibliothek. Lesen, Lernen und Lachen sind nun gerade keine literaturwissenschaftlich regierende Trinität in Deutschland! Sie aber lassen die Suche nach dem Geheimnis großer Literatur zu einer der bekömmlichsten Exkursionen für das lesende Publikum werden. Es beginnt (Dank an Eva Menasse!) mit dem Titel: So etwas von verunglückt!. Das ähnelt schon Und mit frischem Mut warf sie ihren Ring in den Hut! Von der Zeichensetzung über die Stilmittel – Die Instrumente zeigen zu den literarischen Provinzen – K.u. K – und dazwischen ein Literaturquiz als Verbeugung vor den Dauerquizsendungen des Fernsehens! Und immer wieder Urteile und Urteile, bei Nabokov sympathisch subtil, bei Kafka ein unerschütterbares Sehr gut!, Thomas Mann erhält schmerzendes Lob, Hildegard Knef ein verblüfftes Geht doch!, und eine – oijoijoi – Seitenexkursion in die erotische Literatur zu Bambi und der Wienerin Josphine M., beide Felix Saltens Feder entsprungen. Mich hat immer interessiert, wer wie warum gut schreibt. Hier ist Michael Maars gut geschriebene Antwort, mit einem Titelbild von Andre Derain, The Cup of Tea (1935).

Anfang des Jahres spielte er mit Buchtiteln (Süd. Zeitung, 15.1.) und konstatierte, dass Die Unvernünftigen sterben aus (Peter Handke) leider ein leeres Versprechen blieb, Der Besuch der alten Dame (Friedrich Dürrenmatt) nicht erlaubt war, aber die Hoffnung blieb, dass einmal ein Abend mit Goldrand (Arno Schmidt) kommen könnte und wir alle sehen ‚Licht im August (William Faulkner). Die Altmeister Ludwig Reiners mit der Stilfibel und Wolf Schneider mit Deutsch , dem Handbuch für attraktive Texte (!) sind redlich und verlässlich, Michael Maar lädt ein zum Lesefest, frei vom Kanon und ohne Böll und Grass, ein Füllhorn auch zum Vorlesen, zuweilen mit einer Prise Altväterlichkeit, die würzt und bekömmlich ist.

Beides gilt auch für zwei Autoren, die beruflich von der Literatur geprägt wurden: Der Verlagsleiter Michael Krüger (Hanser Verlag) und der Berner Pfarrer Kurt Marti, letzterer hätte am Jahresbeginn seinen 100. Geburtstag feiern können, er starb 2017. Krüger, bibel- und theologienah, Marti, literarisch eigenwillig bis zur Schweizer Mund-Art, beider Bändchen bezeugen sehr eindrücklich eine schmerzliche Verbundenheit mit dichterischem Sprechen:

Michael Krüger, Meterologie des Herzens, Über meinen Großvater, Zbigniew Herbert, Petrarca und mich, mit einem Nachwort von Matthias Bormuth, Berenberg Verlag, Berlin 2021, 144 S., 20€

Krüger sagt, was viele seiner Generation (1943) auch sagen können: Suhrkamp war meine Universität, andere sagen Hanser ist meine Bibliothek, ob es mit den Akzenten begann oder mit Ecos Der Name der Rose oder der Gelben Reihe. Krüger erzählt in einem Interview mit Matthias Bormuth, wie eine (west-) deutsche Verlagsgeschichte verläuft, einst vertraute Namen (Lettau!) tauchen auf und bundesrepublikanische Krisen. Die so lebhaft wie anstrengende Freundschaft mit Zbigniew Herbert wird porträtiert und die Geschichte des Petrarca-Preises, Beispiel einer europäisch engagierten Literatur. Das Gebet-Gedicht „Herr, dank sag ich Dir für diesen Lebenskrempel“ ist ein ergreifender Höhepunkt des Bandes. Dank an Michael Krüger und dass ihm Lebenszeit geschenkt werden möge!

Kurt Marti, Hannis Äpfel, Gedichte aus dem Nachlass, hrsg. v. Guy Krneta, mit einem Nachwort von Nora Gomringer, Wallstein Verlag Göttingen, 2021, 90 S., 14, 90€

Von dem Pfarrer, Erzähler und Lyriker Kurt Marti wird oft gesagt, er schreibe Theopoesie – eine gewundene Verlegenheit. Was wären dann die Psalmen? Theopoesie zeugt noch von der Spaltung in biblisches und dichterisches Sprechen, was schon immer falsch war. Marti intoniert die biblische Dichtung, was seine Predigten kräftigt und seinen Gedichten Klang, Farbe und vor allem Weisheit verleiht (Leichenreden). In den Texten aus dem Nachlass sind es die sehnsuchtsvollen Nach-Gedanken auf seine verstorbene Frau, das bittere Vermissen und die Klage über das Verlassensein: Doch jetzt bin ich/ohne dich/ nur noch vorhanden. Er erwähnt seinen Gott nur selten, denn der ist kein Lückenbüßer.
Vor dessen Angesicht kann er noch – humorvoll und verzweifelt – über seine Lage klagen:
bin nicht in der lage / bin fast nie in der lage /bin überhaupt / in keiner lage mehr /mein los/ heißt lagelos /wie werd ich /diese lage los?
Der Band hat ein herzbewegendes Titelbild.

Marti wäre im Frühjahr hundert Jahre alt geworden, ein ehrwürdiges Datum – zehn Jahre alt ist auch ein würdiges Datum für eine erste Buchbesprechung, So hat Fanny Ruppel (10 Jahre) diese Rezension verfasst. Mit ihr soll diese Reihe aufhören, um offen zu bleiben für die kommende:

Margit Auer, Die Schule der magischen Tiere – Band 11: Wilder, wilder Wald,
Carlsen Verlag Hamburg, 2020, 274 S. groß gedruckt! , 12€

In der Buchreihe Die Schule der magischen Tiere können Kinder mit Tieren sprechen. Im 11. Band der Reihe geht es für Miss Cornfields Klasse ins Wildniscamp. Im Wald scheint sich ein Tier zu verbergen, das nach seinem Kind sucht. Die Kinder und ihre Tiere fühlen sich beobachtet. Das Mädchen Elsa findet im Wald silberne Fäden und spürt am deutlichsten, dass etwas nicht normal ist.
Werden die magischen Tiere das Tier finden und es zu seinem Kind bringen können?
Ich habe das Buch gerne gelesen, weil ich die ganze Reihe sehr toll finde. Das Buch ist lustig und sehr spannend – für mich das perfekte Buch! Man sollte allerdings schon ein oder zwei Bücher der Reihe gelesen haben! Mit den Kindern und Tieren konnte ich mich gut identifizieren. Es fühlt sich so an, als wäre man selbst Schülerin dieser Klasse von Miss Cornfield. Das Buch ist für Erstleser genauso gemacht wie für Zehnjährige.

Und so wünschen wir helle, bekömmliche Ostertage – Tage des Lesens!

Abendsegen | Montag 14. Dezember

Meine Tochter konnte eine Wohnung übernehmen. Sie lud mich zur Besichtigung ein. Nun, die Vorhänge gefielen mir nicht, die Tapeten waren ein Graus und die Möbel – nein, unmöglich. Meine Tochter blieb hochbeglückt: Vorhänge, kommen weg, die Tapete? Sofort weiß streichen, Möbel?

Raus damit! Sie hatte alles schon im Kopf. Und mir wurde klar, sie sah die renovierte Wohnung! Sie würde sich in die Arbeit stürzen: Aufräumen, ausmisten, malen, renovieren – sie hatte ihren Traum vor Augen, eine helle, schöne Wohnung.

Und mir fiel die Geschichte vom Hochseilartisten ein: Der Rabbi schaut ihm zu und fragt ihn hinterher: „Worin besteht das Geheimnis, dass du nicht das Gleichgewicht verlierst?“ Der Artist stellt eine Gegenfrage: „Was glaubst du, wohin sollte man schauen, um das Gleichgewicht zu halten?“ Der Rabbi erwiderte: „Auf keinen Fall auf den Boden oder das Seil!“ „Genau“, sagte der Artist, „Und immer die Stange im Auge behalten, die das Seil am anderen Ende trägt. Und was ist der gefährlichste Augenblick?“ Der Rabbi sagte: „Der Moment, in dem du dich wieder umdrehen musst und eine Sekunde lang deinen Bezugspunkt verlierst!“ „Ganz genau“, sagte der Artist.

In 10 Tagen ist Weihnachten – nicht aus den Augen lassen!

Unser Vater, bringe zur Ruhe, was uns durch den Kopf geht, segne unseren Schlaf, lass uns gestärkt erwachen!

Abendsegen | Freitag, 4. Dezember

Der Schabbatabend ist in die jüdischen Familien eingezogen. Psalmen werden gesprochen, Lieder gesungen, die das Leben preisen und alles beklagen, was ihm angetan wird. Gebete gesprochen wie Formulare, in die man den eigenen Namen eintragen kann, den Schmerz und das Glück, die Sorge um die Welt und die Kinder.
Der 12. Psalm, frei nach dem hebräischen Versmaß übersetzt von Lorenz Wilkens:

Hilf, Herr! Denn niemand ist dir noch ergeben.
Verloren ist die Treue bei den Menschen.
Unter Nachbarn herrscht die Lüge in glatter Sprache.
Sie reden als hätten sie zwei Herzen.
Sie sagen : unsre Zunge macht uns stark!
Man tut Gewalt an den Gebeugten; und die Armen – ach, sie müssen seufzen!
Darum spricht der Herr: Jetzt steh ich auf, dem Bedrängten, den sie anschnauben, bring ich Hilfe!
Die Worte Gottes sind so klar wie Silber, das im Schmelztiegel geläutert
und siebenmal vom Sand gereinigt wurde.
Oh Herr, du wirst uns rein halten für alle Zeit!

Amen – So sei es, so werde es

Unter der Leselampe | Herbst 2020

„Lesen schärft die Fähigkeit, die Welt zu verstehen, in ihrer Vielfalt und Komplexität. Auf Französisch bestehen die Wörter ‚lire‘ (lesen) und ‚lier‘ (verbinden) aus denselben Buchstaben. Lesen führt einen zu sich selbst zurück. Lesen, um sich selbst zu lesen. Lesen ist die freieste kulturelle Tätigkeit, die es gibt.“ Annie Ernaux
Man kann es leicht und mit schwingender Eleganz sagen und man kann es schwer mit gewichtiger Bedeutsamkeit sagen: „Wir sind von Haus aus eine geschwätzig plappernde Spezies – kommunikativ vergesellschaftete Subjekte, die ihr Leben nur in Netzwerken erhalten, die von Sprachgeräuschen vibrieren.“ Jürgen Habermas
Nur zwei kleine Fundstücke aus dem an Medaillons reichen Band von

Katharina Raabe, Frank Wegner (Hrsg.): Warum lesen. Mindestens 24 Gründe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 347 Seiten, 22 Euro

Ein Geschenk, das sich der Verlag zum 70. Geburtstag selbst bereitet hat, doch über den Anlass hinaus auch zur rechten Zeit vorlegt, worauf das Nachwort anspielt „Lesen ist eine Überlebenstechnik. In Krisenzeiten sind Menschen, die lesen, im Vorteil….Krisenzeiten können sich als Ernstfall für die veränderte Kraft des Lesens erweisen. Das Erzählen wie das Denken erfordern Zeit und Konzentration. Kraft sich etwas vorzustellen und zu vergegenwärtigen. Wie jemand liest, sagt etwas darüber aus, wie sie oder er lebt, die lesende Person ist versucht zu sagen: Ich bin das, was ich gelesen habe…Wie aber kommt es dazu?“
Darauf antworten Autorinnen – mit mehr als 24 Gründen! – und Autoren in großer Stimmenvielfalt.
Annie Ernaux, Katja Petrowskaja, Eva Illouz, Esther Kinsky, Jürgen Habermas, Dzevad Karahasan, Maria Stepanova, Hartmut Rosa, Hans Joas, Alejandro Zambra und viele mehr aus Berlin, Wien, Jerusalem, Moskau, Charkiv und…
Lesen und Leben, ein Buchstabe – trennt er, verbindet er? Führt er zu einem Gespräch?

„Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden“, gleich einem Wasserzeichen im Papier, einer
wiederkehrenden Musik, eines ständig mitgehenden Tones, ist dieser Satz die Melodie eines großen Buches, in dem das Erzählen gegen den Tod mit einer hochliterarischen Friedensbotschaft geübt, entfaltet und, ja, selbst noch gelernt wird:

Colum McCann, Apeirogon, Roman, 608 S., Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, Geb. Ausgabe
25 Euro

Was wird vorbei sein? Wer sind „wir“?, Worüber reden? Und: Wo beginnen ? Der Erzähler – ein liebevoller Erzähler – greift zur ältesten und modernsten Erzählweise: einem kunstvollen Gewebe aus Tausendundeiner Nacht, Bibel, Koran und Kafka – eine Rahmenhandlung mit Schachtelgeschichten und er nennt das alles: „Apeirogon“, kein eingängiger, aber sehr angemessener Titel: Apeirogon, eine Figur mit einer zählbar unendliche Menge Seiten, zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern für „unendlich“ und „Winkel“, bildlich zu erkennen als eine unendliche Menge von Rauten, die sich in leichten Versatz ohne Ende wiederholen.

Diese geometrische Erzählfigur vermag nun das unzugänglichste, verminteste und intrikateste Erzählgebiet gegenwärtiger Literatur herantastend zu beschreiben: den israelisch-palästinensichen Konflikt. Der „wird erst vorbei sein, wenn wir reden..“ Zwei haben das unter Schmerzen begonnen:
Rami Elhanan, Jude, Israeli, Jerusalemer, Vater von Smadar, die mit 13 Jahren von einem palästinensischen Selbstmordattentäter ermordet wurde, und Bassim Aramin, Moslem, Palästineneser und Vater von Abir, die mit 10 Jahren von einem israelischen Grenzschützer erschossen wurde. Beide sind keine fiktiven Figuren, der Erzähler hat sie kennengelernt und die Erlaubnis erhalten, ihre Geschichten, ihre Welt, ihre Erfahrungen und ihre Friedensarbeit zu erzählen. Die Väter der toten Töchter werden nun „Brüder“in dieser Welt der Scharfschützen, fliegenden Checkpoints, Dauerkontrollen, Mauern, Alarmsirenen, Notkeller, Steinehagel und Zerrissenheiten von morgens bis abends. Das Buch erzählt den einzigen sinnvollen Ansatz, nämlich auf das Siegen-Müssen zu verzichten, in 1001 Kapiteln: 1-499, in denen Rami mit seinem Motorrad zu einem gemeinsamen Treffen; 499 -1, in denen Bassim auf dem Rückweg ist. Im Kapitel 500 in der Mitte erzählen beide ihre Geschichte, unterstützt von bewegenden Bildern. Kapitel 1001 erzählt die Entstehung.

In den „Schachtelgeschichten“ wird viel zusammengetragen von den Vogelzügen über dem Westjordanland, es gibt Erzählbögen von Theresienstadt nach Jerusalem, von Hamburg nach Beit Jala, der Schule Talita Kumi und dem Kloster Cremisan, Kluges über islamische Ästhetik und biblische Erzelterngeschichten, hundertfältige Facetten der Schoah, traumatische Erinnerungen an die Nakba. Rami und Bassam hätten allen Grund sich zu hassen – sie werden Mitglieder der Combatants of Peace -ihre verstorbenen Töchter weisen sie in ein anderes Leben, jenseits von Steinschleudern und Plutoniumskernen.

Mehr als 5 Jahre hat Colum McCann an diesem unbeschreiblichen Meisterwerk gearbeitet. Er kannte noch nicht die neuen trumpgestützten Verknüpfungen zwischen Israel und den arabischen Staaten, aufgrund deren die Palästinenser Totalverlierer sind. Seltsam, das Buch erschien im Februar 2020 in den USA, kurz vor dem Aufflammen der „Black Lives Matters“-Proteste..Man kann es nicht zusammenfassen; es ist ein uneingeschüchterter Appell zur Freundschaft über politisch-religöse Grenzen hinweg, ein Lehrbuch über den Verzicht auf das Siegen-Müssen, Von Rami heißt es: „Er wollte die Zuhörer wachrütteln. Eine Regung sehen. Nur kurz. Ein sich öffnendes Auge. Das genügte schon. Einen Riss in der Mauer. Den Anflug eines Zweifels. Irgendetwas.“
„Es wird erst aufhören, wenn wir reden“ – was hier zwei Völker betrifft, trifft in gleicher Dringlichkeit für drei Frauen zu aus drei Generationen: David Grossmann erzählt die Lebens- und Leidensgeschichte der Eva Panic-Nahir, ihrer Tochter und ihrer Enkelin – wieder wie bei Colum Mc Cann, die Vergegenwärtigung von Lebensgeschichten, vorstellbar verkörpert in literarischer Gestalt wie Rami und Bassim, nun Vera, Nina und Gili.

David Grossmann, Was Nina wusste, Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Hanser Verlag, München, 2020, 251 S., 25 Euro

„Was Nina wusste“ ist der Schmerzkern des Buches, das in einem innerfamiliären Minenfeld versucht, drei Generationen eine Sprache zu geben die spontan und verhalten zur gleichen Zeit ist.
Wer andere Darstellungen hinzu nehmen will: „ A naked Life“, Videogespräche von Danilo Kisch mit Eva Panic-Nahir (1089) und „Eva – A Documentary“ (2003), auf Youtube erreichbar. Allen gemeinsam ist die Rückkehr an den Tatort Goli Otok, Titos Sträflingsinsel, die Hölle in der Adria. ( Eine kroatische Pflegekraft, von mir persönlich befragt, stieß ein „Böser Ort“ hervor, sagte kein weiteres Wort).
Was wusste Nina? 1951, nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin, wurde ihr Vater wegen „stalinistischer Umtriebe“ verhaftet, gefoltert und in den Selbstmord getrieben. Ihre Mutter, Eva, wird vom kroatischen Geheimdienst erpresst; sie soll ihren geliebten Mann als Verräter brandmarken; so wird sie ihr Leben retten und mit ihrer Tochter in Freiheit leben. Verweigert sie dies, wartet Goli Otok auf sie und für die sechsjährige Tochter Nina „die Straße“…Und – sie entscheidet sich für ihren Mann und gibt die Tochter preis. Eva Panic-Nahir hat David Grossmann gebeten, diese „Familienvorstellung mit Dämonen“ (Axel Rühle) zu erzählen…Und er lässt dies beginnen am 90. Geburtstag Evas/Veras im Kibbutz, denn sie ist nach der „Hölle“ nach Israel ausgewandert, wo die Generationen wieder zusammenfinden. An diesem 90. Geburtstag beschließen sie, das bisher Verschwiegene, Verdrängte und Erstickte auf einer Reise nach Goli Otok zu erinnern, ja, zu „erlösen“.
Zwei Bemerkungen zum Schluss neben der Versicherung, dass der Roman (?) schier alles enthält –
Kriegsberichte, Liebesepisoden, Familienzwiste, humorvolle Gefechte – die Lagererinnerungen werden in einer „dokumentierend-amtlich“ wirkenden Schriftart gedruckt, was die Intensität erhöht. Ein weiteres Wunder dieses Buches vollbringt die Übersetzerin Anne Birkenhauer. Jeden Anklang an ein schreckliches „Jiddisch-Idiom“ vermeidend, gewinnt sie ein Deutsch für die wohl kroatisch-jüdisch radebrechende Vera, das das Herz berührt – eine Meisterinnenarbeit!
„ Es wird erst vorbei sein, wenn wir reden“ – und wie sie reden: Vera, Nina, Gili, Grossmann, Birkenhauer – und wir haben das Glück, zuzuhören.

Einander zuhören, zueinander gehören, davon erzählt ein Roman, dessen Anfangszeilen lauten:

„Lassen Sie uns zusammenfassen, sagte der Neurologe.
Ja, bitte, flüstern beide.
Die Beschwerden sind nicht vollkommen gegenstandslos. Es hat sich tasächlich auf eiem der Frontallappen eine Atrophie gefunden, die für eine leichte Neurodegeneration spricht.
Wo genau?
Hier auf der Hirnrinde.
Es tut mir leid, aber ich sehe nichts.
Seine Frau beugt sich über die Aufnahme. Ja, da ist etwas Dunkles, sagt sie, aber klein.
Stimmt, klein, bestätigt der Neurologe, aber es kann sich ausweiten.“

Der Roman beginnt: Das Paar, die Demenz und die Zukunft.

Abraham B. Yehoshua, Der Tunnel, Roman, Nagel & Kimche Verlag, München 2019,
367 S., Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, 24 Euro

„Lassen sie uns zusammenfassen“, „ ‚Bitte‘, flüstern beide“, das kann auch nicht anders sein, waren sie doch 56 Jahre verheiratet, der Schriftsteller und seine Frau, die Kinderärztin, immer etwas realitätstüchtiger als er; sie sieht ja auch den kleinen schwarzen Punkt, die „Atrophie“, wie es im ablenkenden Ärztelatein heißt, konkreter: die Demenz oder im Yehoshua-Ton, den einsetzenden Sinkflug des Vergessens. Sie sieht ja auch, wie er aus der Kita den falschen Enkel abholt, nimmt wahr, dass er den Parkplatz vom Auto nicht findet und immer häufiger anderer Leute Vornamen vergisst. Er verläuft sich im Theater und landet schließlich auf der Bühne und geht im Krankenhaus ständig ins falsche Zimmer, kauft auf dem Wochenmarkt und im Supermarkt erst doppelt, dann dreifach Tomaten ein. Demenz – vor dieser Auskunft hat jeder Angst.
„…es kann sich ausweiten, sagt der Neurologe.
Kann es …oder wird es?
Es kann und wird wahrscheinlich.“
Und die Erzählung beginnt…Sie geht mitten in Israels gegenwärtige Geschichte, sie geht mitten in den Demenzverlauf, doch, dreimal unterstrichen: Es ist eine große Liebesgeschichte! „Ich wollte zeigen, dass Ehen auch halten können“, sagte Grossmann in einem Interview. Die Dialoge zwischen dem Paar sind eine einzige Wohltat – es gibt von dieser Literatur so wenig! Und eine weitere Wohltat ist zu lesen, dass viele Israelis kranke Kinder und schwache Alte, Kranke an den Demarkationslinien zu den besetzten Gebieten mit Autos abholen und in ein Krankenhaus bringen und nach Behandlungen wieder zurückfahren. Überhaupt das Krankenhaus: Ein Ort, wo Palästinenser und Israelis gut zusammen arbeiten. Das Krankenhaus – ein Ort der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens, das habe immer funktioniert, sagt der Autor.
Und er gibt sehr vorsichtig-nachdenkliche Anstöße zur Demenz, privat, politisch, pragmatisch. Seine Frau (wieder sie!) fädelt ihn in ein Bauprojekt ein – er war landesweit verantwortlich für Straßenbau – das er mit seinem jungen Nachfolger in der Wüste beginnt, womit „der Tunnel“ ins Spiel kommt, ein so abenteuerliches Projekt, das man aus dem Staunen über Phantasie, Humor, Menschenliebe nicht mehr herauskommt. Seinem Buch gibt Yehoshua die Widmung:
„ Für meine Ika (1940-2016). Unendliche Liebe.“, denn er ist der „liebevolle Erzähler“. Seine Literatur gründet auf liebevoller Zuneigung. Zuneigung – die bescheidenste Form der Liebe, Sie zeigt die Menschen in ihrer Welt ineinander verbunden, voneinander abhängend, zusammen wirkend. Ein Vor-Geschmack dessen, was sein könnte.

Was sein konnte erinnernd vergegenwärtigen und nachträumend am Rand von Tag und Nacht, Schlaf und Wachsein, wieder bewusst werden lassen, durchzieht das neue Buch von

Gertud Leutenegger, Späte Gäste, Suhrkamp 2020, 175 S., 22 Euro

Es entzieht sich rascher Wahrnehmung, prompt nachvollziehendem, auch sympathetischem Einverständnis. Mir kamen als Annäherung nur die unbestimmt-wilden Töne, Spiele und Bilder der Schweizer Fasnachts-Traditionen in den Sinn, zum Beispiel die Luzerner Guugenmusig, ein wahres Dämonium an Masken, Gewändern und Musiken mit ihrer dumpftrommelnden und schrillschmerzenden Guugenmusig. Dem Höllenschlund entstiegen, ziehen fürchterliche Blechbläser, Tubaröhrer, Piccoloflötenschriller, Trompetenbläser und wirre Dudelsackpfeifer durch die nächtliche Finsternis. Ihr Clou liegt darin, die erwartbaren Töne virtuos zu verpassen, exakt daneben zu tömen und mit immer neuen Anläufen in dräuender Klangfülle schmerzlich am Rand vorbei zu spielen.
Ein wenig von dieser vernebelnden Unfassbarkeit, dominanten Undeutlichkeit, exakten Unschärfe, sensiblen Verschwommenheit liegt über dem Buch: Die Erzählerin kehrt in ihre Heimat– so beklemmend wie vertraut – an der schweizerisch-italienischen Grenze im Tessin zurück, um Orion – Ehemann, Freund, Vater ihres Kindes, Lebensgefährte? – zur letzten Ruhe zu geleiten, unruhig war er ein Leben lang. Sie sucht das vertraute unverschlossene, aber menschenleere alte Hotel auf und eine Nacht der Erscheinungen hebt an, in der, der Fasnacht gleich, eine Fülle seltsamer Figuren auftauchen, darunter Flüchtlinge, die auf überfüllten Schlauchbooten sich an die Küste Siziliens
retteten und sich jetzt im unwegsamen Zwischen-Grenzgebiet sammeln, die „späten Gäste“…
Alles spielt in einem einem Grenzgebiet, zwischen den Ländern, den Erinnerungen, zwischen Tag und Nacht, Wachsein und Schlaf. Orion, sein Leben verschwebt und bleibt schwer entzifferbar.
„Es dunkelt schon, als ich den ovalen Platz unter den Bäumen betrete, nichts rührt sich In der Tiefe liegt über der Lombardei ein von diffusen Lichtern erhellter Nebelschleier…“
Vielleicht noch bei Christa Wolf gibt es diese Aufforderung, sich einzulassen auf die Erzählerin ihr i Nachdenken und Erinnern, sich selbst dem Leben auszusetzen mit seinen karnevalesken Zügen, mitzudenken beim inneren Gespräch. „Jahre vergehen, und die Zeit heilt nichts.Sie macht uns nur mutig, unsere Erschütterungen zu tragen.“ Ein Buch, „zwischen den Jahren“ zu lesen…

Ein ganz anderer Jahrestag wurde Ende Oktober in Moskau, St. Petersburg und Woronesch gefeiert:
Iwan Bunins 150. Geburtstag; Anlass für den Dörlemann-Verlag, einen weiteren Erzählungsband seiner Bunin-Gesamtausgabe (neun Bände seit 2003) hinzuzufügen:

Iwan Bunin, Leichter Atem, Erzählungen 1916-1919, Deutsch von Dorothea Trottenberg, herausgegeben von Thomas Grob, Dörlemann Verlag, Zürich, 287 S., 25 Euro

Präsident Putins Erlass, ein respektvolles Gedenken des ausgesprochenen Revolutionsgegners – er floh 1920 mit einem der letzten Schiffe von Odessa nach Frankreich – einzuberufen, war zumindest verblüffend, fand bei uns kaum ein Echo, von einigen Lesungen abgesehen. Bunin in einer Ausstellung auf dem Roten Platz? Er habe einen „herausragenden Beitrag zur russischen und zur Weltliteratur“ getan, so das Staatsoberhaupt. In der Russischen Staatsbibliothek für Kinder gibt es einen Wettbewerb „Grammatik der Liebe“…
Nun war Bunin um die Jahrhundertwende ein geliebter und verehrter Autor, befreundet mit Maxim Gorki, bewundert und zum Lehrer erhoben von Vladimir Nabokov, mehrfacher Träger des Puschkin-Preises, Ehrenmitglied der Russischen Akademie – eine Stimme Russlands, die nach 1917 verstummte, ja erstickte, denn er nahm die Revolution wahr als eine „Orgie des Todes“. Er liebte das alte Russland, seine Dörfer, seine Menschen – er zerbrach an der Gewalt der Umbrüche, die das Dorf und seine Schenken, Bahnhöfe und Jahrmärkte zerstörten. Er blieb in seiner zärtlichen melancholisch-impressionistischen, bezaubernden Sprache und hielt nichts von den neuen Lautexperimenten etwa des Daniil Charms. 1933 erhält er erster Russe den Nobelpreis für Literatur, da lebt er schon lange in gro0er Existenznot in Paris. Verarmt, vereinsamt, sieht er voller Entsetzen auf die stalinistische Barbarei, die ihn auch 1945, obwohl von Freunden gebeten, gedrängt, erwartet, an der Rückkehr in die Sowjetunion hindert. 1953 stirbt er in Paris -erschöpft von all dem Schrecklichen, was er erlebt hat und von all dem Wunderschönen, was er geschrieben hat.

Darum bemüht sich der Schweizer Dörlemann Verlag, der jetzt die Arbeiten aus den schmerzlichen Jahren des Krieges 1916-1919 vorstellt. Die titelgebende Erzählung ist eine wunderbar leichtsinnige, subtil erotische Geschichte, weit aus schwingende Lebenslust und Melancholie lassen den „leichten Atem“ und die „kalte Frühlingsluft“ nebeneinander atmen. Fatale Affären gibt es noch einige, immer mit malender Sprache erzählt – das müsste unübersetzbar sein, denkt man unwillkürlich…Ein kluges Nachwort ergänzt die brillianten Übersetzungen. Der Band ist angenehm ausgestattet, eine Studie von Kandinsky „Moskau, Zubovskaja Platz (1918)“ auf dem Einband ist ein Geschenk für sich. Ein fern gewordener, kein verlorener Sohn Russlands malt die vorrevolutionäe Zeit verführerisch schön. Olga Martynova erinnert an Bunins Wort „Amata nobis quantum amabitur nulla!“, deutsch: „Wie sie geliebt wurde, keine wird mehr so geliebt!“ Im Russischen ist Russland weiblich….
Den vorhergehenden Band in der Gesamtausgabe empfehlen wir gleichfalls:

Iwan Bunin, Ein Herr aus San Francisco, Erzählungen 1914-1915, Aus dem Russischen übersetzt von Dorothea Trottenberg, 2017, 240 S., 25 Euro

Bunin wieder lesen – das ist ein glücklicher Gewinn, einen Autor wieder finden aus Stille und Vergessenheit, das ist ein glücklicher Fund! Wir verdanken der 2017 Litauen gewidmeten Buchmesse die Begegnung mit dem zwischen Kaunas und New York „hangenden“ Erzähler Antanas Skema, lange verstummt und vergessen – nun wieder zum Lesen präsent:

Antanas Skema, Das weiße Leintuch, Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig, Guggolz Verlag, Berlin, 2017, 265 Seiten, 21 Euro, mit einem Nachwort von Jonas Mekas

Antanas Skema, Apokalyptische Variationen, Prosastücke, Aus dem Litauischen von Claudia Sinnig, Guggolz Verlag, Berlin, 2020, 425 Seiten, 25 Euro, Anmerkungen, Biographie und einem Essay zum Autor von Claudia Sinnig

„Ein Litauer in New York“, könnte man auch titeln. denn das geräuschvolle New York von John Dos Passos und Upton Sinclair, George Gershwin und Fred Astaire vermischt sich mit dem Lärmen der Märkte in Kaunas und Wilna. Die hart hämmmernde Musik Amerikas und die weich romantischen Melodien seiner litauischen Heimat erfüllen Herz und Ohren. Skema verwandelt das Exilleben in hinreißende Literatur. Einem jüngeren Bruder des Ulysses von James Joyce gleich, bewegt er sich durch die Metropole Amerikas, setzt einen atemlos modernen Roman aus sich heraus, ironisch, musikalisch, schnell, verblüffend unsentimental, ernst. Der nach verschlungenen Fluchten aus Litauen in deutschen Camps für Displaced Persons lebte, von dort 1949 den Weg ins New Yorker Exil fand, nimmt den Charakter einer displaced person an:
Er arbeitet als Liftboy in einem großen Hotel, erneut jüngerer Bruder geworden, diesmal des Sisyphos mit seinem up and down, up and own, unablässig, Tür auf, Tür zu, steigt ein, steigt aus…Ein vierzigjähriger Liftboy, steigend, fallend, mit einer großen Liebe für Albert Camus, den Sisyphoskenner…Beide sterben bei Autounfällen, displaced persons auch im Tode.
Und immer wieder litauische Volkslieder, Kindheitsbilder. Was bewahrt ihn vor dem Absturz ins Bodenlose? Ein „weißes Leintuch“. Während der sowjetischen Besatzung wurde er nicht gedruckt, seine Literatur galt als „reaktionär und formalistisch“. Die letzte Seite des Buches „Das weiße Leintuch“ ist ein Porträtbild, wie Jonas Mekas ihn sah: Eleganter Landstreicher im weiten Mantel mit weiten Hosen, schon New York, noch Wilna; Spieler, Sänger, Schreiber, stilbewusst, frei und nachdenklich.
Dank dem Guggolz-Verlag und seinem Gespür für verlorenen gegangene Literatur, Dank an Claudia Sinnig für die Übersetzung und die liebevolle Textannäherung!

Eines ist allen diesen Büchern gemeinsam: ihre „Mächtigen Gefühle“. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin verantwortet einen eigenen Forschungsbereich, der sich der Geschichte der Gefühle widmet. Die Leiterin dieses – ozeanischen ! – Forschungsfeldes, Ute Frevert, hat jüngst eine Ausstellung für die Öffentlichkeit präsentiert, die das Panorama der deutschen Gefühlspolitik im 20. Ja hrhundert entfaltet. Daraus ist ein Buch entstanden:

Ute Frevert, Mächtige Gefühle, Von A wie Angst bis Z wie Zuwendung. Deutsche Geschichte seit 1900, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2020, 496 Seiten, 28 Euro

Läge es jetzt nicht vor, man hätte darum bitten müssen, denn nicht nur Titel wie „Krebs fühlen“ von Bettina Hitzer oder „Republik der Angst“ von Frank Biess oder die rasch auftauchenden Arbeiten jeglicher Couleur zur Virus-Krise zeigen, wie mächtig wir alle zur Zeit durchgeschüttelt werden von Empfindungen, Ängsten, Schocks und Verunsicherungen. Je mehr von coolness geredet wird, je erstrebenswerter cool zu sein scheint, desto allmächtiger scheint sein Gegenteil uns zu dominieren.
Angesichts der Corona-Leugnung und ihrer verwirrten Deutungen erscheint der Klageruf: „Was hat die Menschheit seit 100 Jahren gelernt?“ nachvollziehbar. Es kann gut sein, dass das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung gebeten werden muss, einen Forschungsbereich zu eröffnen: Die Macht der Dummheit“.
Gefühle zeigen, Gefühle nicht zeigen – im Nu ist ein Lebenslauf, eine Karriere, eine Wahl, ein Urteil entschieden. Ute Frevert hat 20 „Mächtige Gefühle“ herausgestellt und ist ihnen in der deutschen Geschichte nachgegangen – ein großes Magazin, dessen Fächer reich gefüllt sind und die nach Erfahrung und Interesse mit Zitaten, Kontexten und Bildern geöffnet werden können – der Ausstellung mit 20 großen Tafeln gleich. Meine Neugier richtete sich zuerst auf Hass, Wut, Stolz und Neid, um politische Phänomene hier und anderswo besser in den Blick zu bekommen. Demut, Geborgenheit, Solidarität, Vertrauen, Zuneigung, Freude in der deutschen Geschichte seit 1900
werden mit ihren erschreckenden Ambivalenzen entfaltet. Die restlichen seinen genannt: Angst, Ehre, Ekel, Empathie, Hoffnung, Liebe, Neugier, Nostalgie, Scham und Trauer..
Jedes dieser Gefühle füllte Regale, nähmen wir weitere Ebenen dazu wie Bildende Kunst und Musik. In einer bekömmlichen didaktischen Reduktion (!) breitet die Autorin einen Fächer der Gefühle aus, der zum Weiterlesen, zum Gespräch-Eröffnen, zu seminaristischen Runde im freundlichen Kreis einlädt. Über 50 Seiten Anmerkungen erweitern und vertiefen die historischen Anstöße. Eins sei noch angemerkt: Ist „Guernica“ von Pablo Picasso das Bild der 20. Jahrhunderts für Europa, so das Photo des knienden Willy Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto das Gefühls-Bild der Deutschen Geschichte seit 1900…
Ute Frevert eröffnet ihre Reihe der Gefühle mit Angst. Sie hätte gleich wieder abbrechen können und von einem Haus in Berlin-Nikolassee erzählen, in dem die Angst das Atmen schwer werden ließ und den Einwohnern, die mit dem Theater, dem Schauspiel, der künstlerischen Darstellung sehr vertraut waren, dennoch keine Gelegenheit bot, die Angst zu „überspielen. Davon erzählt

Thomas Blubacher, Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Friedrich Wistens Fanilie in Berlin die NS-Zeit überlebte, Berenberg Verlag, Berlin, 2020, 189 Seiten, 20 Euro

Heinz Knoblochs Eröffnung seines Moses-Mendelssohn-Buch mit der Mahnung „Misstraut den Grünflächen!“ und den klugen amerikanischen Appell „Dig, where you stand! “ haben wir noch im Ohr als Aufforderung, historische Forschung in der Nähe zu beginnen. Hier müsste man sagen: „Mach die Augen auf und sieh!“. Da steht das verwirrende, so eigenwillig wie schöne Haus im Waldsängerpfad Nr. 3 nahe dem Nikolassee. Vor dem Kauf wurde abgeraten: „Es wird ihnen nicht gefallen, es ist so entartet.“ Große Köpfe des Bauhauses hatten es gebaut und eingerichtet: Peter Behrens und Marcel Breuer. Der Bauherr, der Psychologe Kurt Levin, unterbrach seine Rückreise von einer Gastprofessur in den USA, als er von der Machtübergabe an Nazis hörte und ließ Berlin Berlin sein. Die Ehefrau des Stuttgarter Theatermannes Fritz Wisten, Trude, erwarb das Haus: sie und ihr Mann, im Unrechtsjargon der Nazis, eine „privilegierte Mischehe“, mit zwei „Mischlingen ersten Grades“, ihren Töchtern Eva und Susanne, zogen ein – in ein Ghetto und eine Rettungsinsel.
Die Nachbarschaft bot Personal für einen Alptraum: „Reichsfrauenführerin“ Scholtz-Klink wohnte in der Nähe ebenso wie der Leiter Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Walter Gross.
Unterdessen war Fritz Wisten in die Leitung des Jüdischen Kulturbundes berufen, der von Nazis Gnaden jüdisches Theater für das jüdische Berlin spielen durfte. Mit der Pogromnacht 1938 veränderte sich das Leben völlig: Aufführungsverbote, misslungene Emigrationsversuche, Haftaufenthalte, das Leben wurde unaufhaltsam zugeschnürt…
Am 26. April 1945 erschienen Russen im Berliner Süden – das Atmen wurde wieder leichter. Thomas Blubacher, Schweizer Theaterhistoriker (Monographie über Gustaf Gründgens) dokumentiert auch die Ost-Berliner Theatergeschichte Fritz Wistens, die „Theater“ mit Kollegen und der SED, wobei er immer Grenzgänger blieb, denn er gab das schöne Haus im Waldsängerpfad bis zu seinem Tod 1962 nie auf – ein hausgroßer, diesmal besonders schöner Stolperstein. Da steht er mit blendend weißer Fassade; nun können wir eine bewegende Überlebensgeschichte im „Hausbuch“ lesen. Es gibt Zeugnis vieler Gefühle, Trauer, Geborgenheit, Solidarität und Hoffnung gehörten gewiss dazu. Und Zuneigung

Von dem bescheidensten und liebenswürdigsten Haushalter deutscher Gefühle in der Literatur mussten wir uns am Anfang Oktober des Jahres verabschieden: Günter de Bruyn, 93 Jahre alt geworden in seiner „märkischen“ Heimat, der er mit gediegener Akribie („Unter den Linden“) und verhaltener Liebe („Mein Brandenburg“) viele Geschenke in Zuneigung übereignete. Der Romancier („Buridans Esel“, „Neue Herrlichkeit“, Märkische Forschungen“) verstand es, mit diskreter Souveränität der DDR einen Spiegel vorzuhalten, von dem nicht eindeutig klar ist, ob sie ihn wahrzunehmen verstand. „Märkische Forschungen“, das Buch wie die Verfilmung, waren DDR-Forschungen, vielleicht das kritischste Buch zu diesem Staatsgebilde?
Den Staatspreis, den er 1989 erhalten sollte, lehnte er ab: „Starre, Dialogunfähigkeit und Intoleranz“, und das war es dann… Dagegen lag seine Meisterschaft in der gedanklichen Beweglichkeit, im Überblenden, in der dialogischen Mehrdeutigkeit, wie er sie großartig vorführte in „Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter“ (1975) in einer Passage über die Zensur – im Biedermeier!
Nun hat er – als Bilanz, Lebensepilog? – noch einmal einen Roman vorgelegt:

Günter de Bruyn, Der neunzigste Geburtstag, Ein ländliches Idyll, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2019, 272 Seiten, 22 Euro

Der Autor, im Leben, wie im Buch der Erzähler, ist Bibliothekar und verbringt seine „alten Tage“ in Wittenhagen, einem märkischen Dorf, mit seiner Schwester, einer APO-Veteranin, deren 90. Geburtstag ansteht. Der sprachbewusste Bibliothekar kann den neuen Marketing – und Digitalslang nicht ertragen und wir hören seinem Nörgeln auf hohem literarischen Niveau genauso gepeinigt zu. Er krümmt sich fast bei Slogans wie „Ehe für alle! Keine Obergrenze!“ und der Mahnung „Wir sind alle Ausländer!“, versteht auch nicht, dass aus der alten Reithalle ein „Climatic Spa“ werden soll. Das Gender Mainstreaming empfindet er als Zumutung. Dabei spielt de Bruyn mit den Namen: Er selbst heißt Leonhardt Leydenfrost, eine Abgeordnete der neuen Ökopartei heißt Grünlich, eine geistig sehr schmal ausgerüstete Journalistin trägt den Namen Schmalfuß, sie erscheint zu einem Fernsehinterview mit einem „location scout“- genug, genug, er sieht und hört dem allem melancholisch zu, nicht mit allzu viel Ressentiments geladen, eher kopfschüttelnd erheitert. Bezwingend schöne Schilderungen eines Heilig-Abend-Gottesdienstes und eines Ostergottesdienstes zeigen das erzählerisch glänzende Vermögen des 90jährigen. Als gegen Ende noch eine Buchhändlerin aus Berlin-Dahlem ins Erzähl-Spiel eintritt, die treue Lebensgefährtin seines eigentlich „verlorenen Sohnes“ und die legendär gewordene Schwester an ihrem 90. Geburtstag stirbt, verknäueln sich alle Erzählfäden zu einem bunten und sehr schönen Stück Literatur, für das man dem alt und weise gewordenen Günter de Bruyn nur danken kann! Und da ihn mit der Schleicherschen Buchhandlung eine liebevolle Freundschaft verband, verabschieden wir ihn mit einem Wort des alten Leydenfrost, „…als er… unvermittelt noch einmal seinen Zitatenschatz bemühte:
‚Des Leibes bist du ledig, Gott sei der Seele gnädig’“.

„Üb-ersetzen“ hat Karl Kraus allen empfohlen, die sich im Übersetzen engagieren, ihr Patron und Beschützer ist seit langem der Gott Hermes; listig ist der „gerissenste aller Götter“ (Plutarch) auf den Märkten und Wegen dieser Welt zu Hause. Ein Gott der Schläue mit Neigung zu List und Tücke, Freund der Händler und Glücksspieler, der Übersetzer und Übersetzerinnen, von denen Dorothea Trottenberg und Elisabeth Edl zur Zeit höchstes Lob erhalten. Es ist Elisabeth Edl zu verdanken, dass eine Neuausgabe der Education sentimentale von Gustave Flaubert vorliegt:

Gustave Flaubert, Lehrjahre der Männlichkeit, Geschichte einer Jugend, Roman, aus dem Französischen von Elisabeth Edl; Hanser Verlag, München 2020; 800 S., 42 Euro

Fairerweise gehörten zu diesen Angaben die Nennung die 70 Seiten „Nachwort“ – eine brilliante Studie für sich – und 150 Seiten Anmerkungen geradezu so enzyklopädischer wie angenehmer Gelehrtheit. Die „gelungenste Klassiker-Ausgabe, die es hierzulande zu kaufen gibt“, schwärmt ein Kritiker in der ZEIT. Erschienen 1869, wurde der Roman zwischen 1914 und 2001 zehnmal ins Deutsche übersetzt mit insgesamt sieben Titelvarianten. „Üb-ersetzen“, Karl Kraus sei Dank! Die Untersuchung Elisabeth Edls zu Titel und Titeln ist ein philologisches Medaillon der besonderen Sprachklasse!
Von den vier Romanen Flauberts – Madame Bovary, Salambo, Bouvard und Pecuchet sowie der Educatin sentimentale – trägt er keinen Personennamen, will dagegen eine männliche Jugend zwischen 1840 und 1851 in Frankreich abbilden unter intensiver Einbeziehung der historischen Umstände, vor allem der „Revolution“ von 1848. Es muss die sprachliche Eleganz Elisabeth Edls sein, die den Text gänzlich unromantisch, dagegen sehr straff, knapp, ungezügelt mit seufzender Ironie und kopfschüttelnden Pointen dahinstürmen lässt. Henry James, ein großer Erzähler, fragt mit vollem Recht angesichts der Lektüre: „Why, why him?“. Die Hauptperson Frederic Moreau ist ein verwöhnte Jüngling, „der sein Liebesglück aus Tölpelei und Charakterlosigkeit zuverlässig vermasselt“, so noch heute eine verärgerte kritische Stimme, „eine lasche Lusche“. Die gnadenlose Schärfe, das illusionslose Spiegelbild, die gallige Verachtung, mit der Flaubert seine Zeit sieht und das bewundernswerte Ensemble seiner Figuren reden lässt, lässt keine Unterbrechung beim Lesen zu! Der Roman verlangt, wie sein späterer Kollege Marcel Proust forderte, „Tage des Lesens.“
Mit den Anmerkungen – 150 Seiten – ließe sich ein Romanistik-Studium gut beginnen. Selbst wer den Roman im Regal steht hat, wird einem völlig neuen Buch begegnen, nämlich den „Lehrjahren der Männlichkeit“, die literarischste Didaktik des 19. Jahrhunderts – stilvoll, einsichtsreich, sehscharf, antiromantisch, aufgeklärt, mitleidlos und liebevoll zugleich. Die „Lehrjahre“ können zum „Lehrlesen“ werden.

Bücherbrief Sommer 2020

Wandern…mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern

Betraut mit der Aufgabe, die Feinkostabteilung eines großen Buchhauses (BuDeWe) mit literarisch ausgesuchten, politisch inspirierenden, historisch entdeckenden und filmisch reizvollen Arbeiten auszustatten, der ist zu raten, das neue Buch (Buch?) von Alexander Kluge auf das sorgfältigste in 5 kleine Ausstellungen auseinanderzunehmen, dazu einen Lesepfad zu entwerfen und angenehme Gelegenheiten zum Niedersitzen, Nachdenken und Erholen bereit zu stellen…
Was der Schriftsteller, Filmemacher, Anwalt und Produzent irritierender Fernsehformate, Alexander Kluge, in seiner neuen Arbeit versammelt, nennen wir noch immer „Buch“, es ist eine, wie sie es früher in Fürstenhäusern gab, „Wunderkammer“, ein kulturgeschichtliches „Zeughaus“, eine Zeitkapsel oder wie Rezensenten übersalopp sagen, eine „Wundertüte“. Er selbst gebraucht im Titel das marktaktuelle Wort für einen Großraumbehälter, der einfaches und schnelles Verladen, Befördern, Lagern und Entladen ermöglicht: „Container“ – nein, schon hereingefallen, Kluge schreibt „Kontainer“ – eine optische Annäherung an das russische Vokabular?

Alexander Kluge, Russland-Kontainer, Mitarbeit: Thomas Combrink, 436 S. Gebunden, Suhrkamp Verlag Berlin 2020, 34 Eur

Wörtlich: vielseitig, vielfältig, vielstimmig, vielschichtig – Kluge hätte sich eine Landkarte von Russland im 1: 1 Maßstab gewünscht… Der Band selber ist eine Feinkostabteilung mit den erlesensten Delikatessen. Und das in einer Zeit, in der Hegels Weltgeist schwere Schaffenskrisen durchleidet. Und dazu noch „Russland“!
„Die Russen kommen“, eine Generation hat diesen Schrei noch als Alptraum in den Ohren! Doch Kluge hat auch anderes erlebt: „In Halberstadt konnte man genau beobachten, wie sich die Alliierten unterschieden. Die Amerikaner kamen mit dem Jeep und brachten uns Bonbons. Die Briten waren reserviert und geizig. Die Russen sind zu Fuß und laut singend eingezogen. Davor hatten wir Angst…es gibt eine Tendenz, nach Osten hin anzuschwärzen. Der preußische König und spätere Kaiser Wilhelm I., Großvater des Angeberkaisers Wilhelm II., hat gesagt, Russland müsse man immer mit „Sie“ anreden.“
Russland mit Respekt begegnen, das ist Kluges Vorgehensweise. Er will nicht mit dem Blick des Beutejägers, des Adlers, der von oben nach unten blickt, dem Land begegnen, so ist sein Interesse durch Napoleons und Hitlers katastrophale Beutezüge geschärft. Kluge, pointiert: „Alle Eroberer sind nicht besonders stolz zurückgekommen.“ Außerdem weiß Kluge, dass Russland viel mehr ist als „Moskau“.

Wir sollten an dieser Stelle nicht vergessen, dass es für Russland in jüngster Zeit Bemerkenswertes zu lesen und zu lernen gab, zwei Namen seien erinnert: Swetlana Alexijewitsch und Karl Schlögel. Einmal die verdichteten Lebenserfahrungen der Nobelpreisträgerin, einmal die (ziegelstein)-schweren Bände des Historikers von der Viadrina in Frankfurt an der Oder. So prägnant beide ihre Studien vorlegen, so sehr sind sie auch mit hohem narrativen Ton verfasst, darin Kluge verwandt, wenn auch dessen völliger Verzicht auf Stringenz, Struktur und Erzähllogik mehr dem Bild vom „Kontainer“ entspricht. Wer mit dem Straßenplan von Groß-London im Harz wandert, wird auf vieles stoßen, was nie zusammengehörte, was man aber zu einem Themenkarussell zusammenknüpfen kann. Wer weiterliest, wird bald von einem Kettenkarussell sprechen…. Im Bilde: Arbeiten Schlögel und Alexijewitsch mit einem „Ordner“ vom Regal, so Kluge mit faszinierenden Puzzlehäufchen, von denen er nie gedenkt, sie zusammenzusetzen.

Was treibt Kluge an? Er ist überzeugt, dass die Russen 1917 eine andere Antwort auf den Einsturz, das Ende aller tragenden Gewissheiten geben wollten als alle anderen Nationen Europas. Und das schwärmerisch, visionär, hochbegabt, extravagant, kühn und mit produktiver Energie, kurz: eine ungeheure Erinnerungs – und Erneuerungsbewegung, eine Emanzipation in eklatanter Ungleichzeitig in einem unvorstellbar riesige Reich. Sie bekam keine Zeit – Stalins Terror erdrosselte sie. Karl Schlögel hat diese Gleichzeitigkeit in „Traum und Terror – Moskau 1937“ vor Augen gemalt. „Traum und Terror“ zwischen 1917 und 1937 zu entdecken, nachzuzeichnen, in Hunderten von politischen Episoden, Biographiesplittern, Kadererfahrungen, Experimenten vor dem Vergessen zu retten, das treibt Kluge an. Und so fragt er heute völlig zu Recht: „Gibt es in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts einen Utopie-Horizont?“ In einem Interview mit dem Standard sagte er jüngst: „Max Weber spricht in Bezug auf jemanden, der so forsch wie ein Siebenjähriger mit Weltverhältnissen, Atombomben und der Frage von Krieg und Frieden umgeht wie Trump, vom Charisma des betrunkenen Elefanten.“ Eben deshalb ist es so wichtig, den Beobachtungen Kluges in ihrer exklusiven Fülle an Sonderbarem zu folgen. Ich bin überzeugt: Er glaubt an die Lesenden! Bei so viel konsequentem Verzicht auf Zusammenhang zwischen Puschkin und Putin, Kant, Kaliningrad, Kosmonauten, Karamasow und den Kränen von Mukran, wo bald die nord-stream-Pipeline andockt, die der gefährliche Kindkaiser am liebsten zerstören würde…

Virtuos sammelt er das Entlegendste; immer wieder selbst erstaunt über so viel revolutionäre Vorhaben, pfeilschnellen Schiffen gleich, denen bei soviel Sturm leider die Segel fehlen. In eines der bizarrsten Geschichten wird von einem Lemberger Glühbirnenfabrikant erzählt, der die Nachtstunden Sibiriens mit seinen Produkten kolonisiert hat. Riesige Gebiete haben sich durch die künstliche Tageshelle in die Nacht hinein vergrößert. „Es wurden keine Gefangenen gemacht. Im Gegenteil.“ Zum „Licht“ weiß Kluge aber auch von den Ikonen, den spirituellen Fenstern nach innen; „und dann ist da noch das Licht, das in einem Revolver blitzt, der auf den Nacken von Nikolai Bucharin gerichtet ist. Das war einer der Beliebtesten der Partei, ein vertrauenswürdiger Genosse…Dieser Blitz im Revolver ist die Anti-Ikone. Dazwischen liegt das weite Feld der Wirklichkeiten Russlands.“

Eine Wunderkammer – selbst die „Hinweise und Nachweise“ geben erneut Anschlussmöglichkeiten an das filmisch-dokumentarische Werk Kluges, vom dem viele Bildreihen im Buch zu sehen sind. In Kluges Sinne sollte natürlich hier das Buch abgedruckt werden – wie sonst Disparates, Ungleichzeitiges, Nichtzusammengehöriges abbilden? Wenigstens einige große Kapitel seinen genannt:: „Alle Seelen Russlands weisen mit ihren Wurzeln zum Himmel“ ; „Russland, das Vaterland der Besonderheiten“; Der Blick des Beutemachers auf die Landkarte“; „Die Macht liegt im Verputz versteckt; Lamento für die verlorengegangene Perestroika“…Es ist auch schön, nicht zu wissen, was erfunden und was historisch ist…

Geben wir Alexander Kluge den Schlusssatz, „…einen schönen Satz, dem ich sehr anhänge: ‚Mit einer Straßenkarte von Groß-London den Harz durchwandern.‘ Ich komme aus dem Harz, und ich kann ihnen sagen, Sie würden mit Sicherheit in irgendeine Kuhle fallen und sich den Arm brechen. Das wäre eine unmittelbare Erfahrung, und die würden sie sich merken.“

Liebe Leser dieses Bücherbriefes, die Reise mit Kluges Kontainer durch Russland kann eine unmittelbare Erfahrung werden. Kluge, Jahrgang 1932, studierte Jura, Geschichte und Kirchenmusik. „Russland-Kontainer“ wird ins Russische übersetzt und soll im Museum für zeitgenössische Kunst im Moskauer Gorki-Park vorgestellt werden.

Erwähnte und empfohlene Titel:
Swetlana Alexijewitsch, Der Krieg hat kein weibliches Gesicht, Hanser Berlin, 2013, 360 S.
Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit, Leben auf den Trümmern des Sozialismus, Hanser Berlin 2013, 570 S.
Karl Schlögel, Das sowjetische Jahrhundert, Archäologie einer untergegangenen Welt, C.H. Beck München, 2018, 912 S
Karl Schlögel, Terror und Traum, Moskau 1937, Hanser Verlag München 2008, 812 S., 34.00 Euro
Verlagsidentische Ausgabe bei: Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2008

Nicht erwähnt und deshalb hier mit Nachdruck empfohlen.
Oleg Jurjew, Zwanzig Facetten der russischen Natur, mit 10 Bildern von Kusma Petrow Wodkin, Insel Bücherei 1307, Insel Verlag Frankfurt a. M. 2008, 68 S.,12.85 Euro

Der Bücherbrief erscheint in Zusammenarbeit mit Schleichers Buchhandlung in Dahlem-Dorf, Königin-Luise-Straße 41, 14195, Tel. 84 19.02 -0, www.schleichersbuch.de

Abendsegen | Sonnabend, 17. März 2018

Ein  kleines Mädchen wollte Gott treffen. Es packte eine Limonade und drei Schokoriegel in den Rucksack und ging zum Park. Da saß eine alte Frau und schaute den Tauben zu. Das Mädchen setzte sich zu ihr, packte die Limonade und einen Schokoriegel aus und sah, wie hungrig ihre Nachbarin zuschaute. Da gab sie ihr den Schokoriegel. Dankbar lächelte die alte Frau und das Mädchen gab ihr auch die Limonade, wieder ein wundervolles Lächeln. So saßen die beide den Nachmittag im Park, sprachen kein Wort, aßen Schokoladenriegel, tranken Limonade. Als es dunkel wurde, verabschiedete sich das Mädchen, umarmte die Frau und ging nach Hause.

Die Mutter fragte: „Du siehst so fröhlich aus!“ „Ja“, sagte das Mädchen, „ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – sie hatte ein wundervolles Lächeln!“ Auch die alte Frau war nach Hause gegangen, wo ihr Sohn sie fragte, warum sie so fröhlich aussehe. Sie antwortete: „Ich habe mit Gott zu Mittag gegessen – und sie ist viel jünger, als ich dachte.“

Der Friede Gottes erfülle und beschütze uns, er verzeihe alle unsere tastenden Bilder und beschenke uns mit Staunen, wer sich mit uns an einen Tisch setzt.

Abendsegen | Sonntag, 18. März 2018

Ich lese den biblischen Psalm 121 – ein Gebet zur Nacht:

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen,
woher kommt mir Hilfe
Meine Hilfe kommt von Gott,
der Himmel und Erde gemacht hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen,
und der dich behütet, schläft nicht.
Siehe, der Hüter Israels
schläft noch schlummert nicht.
Der Herr behütet dich.
Der Herr ist dein Schatten über deiner rechten Hand,
dass dich des Tages die Sonne nicht steche noch der Mond des Nachts.
Der Herr behüte dich vor allem Übel, er behüte deine Seele.
Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit.