Abendsegen | Mittwoch, 8. Februar

Das Konzert in der offenen Arena versprach großartige Musik, es war eine wundervolle Szenerie von Formen und Farben, in Scharen strömte das Publikum herbei. Kurz vor Beginn wurde der Himmel schwarz, schnell prasselte ein Platzregen auf die Menge nieder, begleitet von Blitz und Donner. Die Menschen flüchteten ins überfüllte kleine Festzelt. Der Regen hörte auf, die Menschen kehrten zurück. Doch dann setzte das Gewitter wieder ein, die Flucht begann erneut und der Regen hörte nicht mehr auf. Die Stimmung sank auf den Tiefpunkt, andere ärgerten sich immer lauter, manche flohen gänzlich davon. Doch in einem ruhigen Moment rief plötzlich eine Stimme: „Habt ihr je so viele so schöne Menschen so rennen sehen?“
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann lachte jemand los, und mit einem Mal lachte das ganze Festzelt, Enttäuschung, Ärger, Niedergeschlagenheit waren wie weg, Menschen umarmten sich, sprachen miteinander. Ja, tatsächlich: Alle, eine wie der andere, waren wirklich schöne Menschen! Dass wir nie wissen, welche Wunder manchmal ein einziges Wort, eine Anerkennung bewirken kann!
In der Bibel ist einmal die Rede davon, dass das Himmelreich einem Senfkorn gleich ist, einem einzigen Wort, einem liebevollen Augenblick – und im Nu ist die Welt verwandelt!

Unser Vater, segne unseren Abend und unsere Nacht mit der heiligen Gabe der Zuversicht!

Abendsegen | Dienstag, 7. Februar

„Die Suche wurde wegen einbrechender Dunkelheit eingestellt, bei Tagesanbruch wird sie fortgesetzt.“ Die Radiomeldung klingt wie eine zwingende Formel. Die Rettungsmannschaften müssen bis zum Morgen warten, jetzt herrscht die Nacht, sie diktiert die Bedingungen der Suche.
Im biblischen Psalm 77 heißt es: „Am Tage meiner Not suche ich den Herrn, meine Hand ist ausgestreckt des Nachts und ermattet nicht, meine Seele weigert sich, sich trösten zu lassen.“
Auch Gott kann dem Menschen tagsüber verloren gehen, er aber setzt die Suche bei Nacht fort, seine ausgestreckte Hand übernimmt die Regie und seine Seele gibt sich nicht mit ein wenig Trost zufrieden.
Der betende Mensch stellt sich den Bedingungen der lebensfeindlichen Nacht, doch er unterwirft sich ihnen nicht. Die Nacht herrscht nicht, in welchem Keller, auf welchem U-Bahnhof der Mensch sie verbringt. Vom Ende der Nacht ist nichts in Sicht, Gott ist ferner denn je, Stimme und Augen können nichts mehr tun, doch die Hand, die Hand bleibt ausgestreckt. Die Nacht herrscht nicht. Für alle in solcher Nacht bitten wir um die Kraft ihrer ausgestreckten Hand.

Unser Vater, komme mit deinem kräftigenden Segen den ausgestreckten Händen entgegen, dass die Nacht sie nicht beherrsche!

Abendsegen | Montag, 6. Februar

„Wir müssen jetzt aufhören, sonst wird es zu teuer!“, erinnern sie sich noch an diesen Satz? Dabei sahen wir auf das alte Bakelit-Telefon mit der Wählscheibe, wie eines bei uns zu Hause stand, in den Siebziger Jahren noch…
Eine große Freiheit ist in unsere Begegnungs-und Gesprächsmöglichkeiten eingezogen; wer mal eben 50 Jahre weg war, verstünde nichts mehr: Skypen, mailen, funken, chatten haben das Beisammensitzen am Lagerfeuer oder in der guten Stube ein für alle Mal verändert.
Es herrscht ein riesiges Bedürfnis, angerufen zu werden, darf man sagen, „erwählt“ zu werden? In einer kommunikativen Wolke zu verschmelzen. Es tut vielen Menschen so gut, nicht mehr aufhören zu müssen mit dem Sprachen und Zuhören, weil es zu teuer wird.
Es sind die überlieferten Worte des kleinen Neffen von Sigmund Freud, die mir dafür noch einmal die Augen öffneten: Er bat seinen Onkel beim Versteckspiel in der Wohnung laut zu sprechen, während er in Richtung eines dunklen Zimmers unterwegs war. Auf die Frage Freuds, warum er das tun solle, antwortete der Junge: „Wenn jemand spricht, wird es heller.“ Davon gilt es zu lernen…

Unser Vater, segne unseren Abend mit einem wohltuend erhellenden Wort und unsere Nacht mit deinem Schutz.

Abendsegen | Sonntag, 23. Oktober 2022

Yehudi Menuhin, der große Musiker, hat seine Lebenserinnerungen geschrieben und sie „Unvollendete Reise“ genannt. Einmal schreibt er auch über die Interpretation eines Musikstücks:
„Im Idealfalle würde man eine Passage ganz gleichmäßig spielen und gerade so viele Unregelmäßigkeiten zulassen, dass ein Element der Lebendigkeit spürbar bleibt.“ Für Menuhin ist diese kleine Unregelmäßigkeit, diese Lebendigkeit, die sich nicht ans Vorgeschriebene hält, dieser Sprung in der Partitur „La part de Dieu – der Teil Gottes“. Er schreibt, das sei es, wovon jede Aufführung fast unbewusst bestimmt sei.
Ich finde das wunderbar: Die Noten vollkommen , so exakt wie nur möglich zu spielen – und dann ein kleiner Spielraum, ein kreativer Sprung dazwischen, den er nicht in der Hand hat, die den Bogen führt, der aber alles bewegt und belebt – La part de Dieu – Gottes Teil.
Gott segne uns alle in unserem angestrengten Leben mit jenen kleinen Teil von überraschender Lebendigkeit, der unsere Nacht- und Tagzeit immer erneut so wunderbar werden lässt.

Abendsegen | Sonnabend, 22. Oktober 2022

In den frühen Anfangstagen waren die Frauen und Männer, die an Jesus Christus glaubten, in ihrer Umwelt bekannt als jene, „die dem Weg folgten“. So nannte man sie, die „die dem Weg folgten“, gemeint war der Weg des Jesus Christus. Erst viel später bezeichnete man sie als „Christen“.
Was beim Weg allein zählt, ist das Gehen. Und bei ihnen kam hinzu, dass sie zusammengingen, zusammenlebten, zusammengehörten. Dies Zusammengehören war gegenseitig und allumfassend. Es gab nicht oben unten, Herren und Knechte, sie nannten sich „Schwestern und Brüder“. Das war eine Tatsache und Geschenk. So wurde Dankbarkeit das Merkmal ihrer Lebendigkeit schlechthin. Dankbarkeit wurde ihre Antwort auf das Leben, ganz gleich, was es brachte.
Solche Anfänge hat es häufig gegeben, solche Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, nach Zuwendung. Füreinander handeln, aufeinander hören, aneinander denken – damit werden Menschen einander gerecht. Die neue Woche wird viele Gelegenheiten dazu geben.

Gott lasse sein Angesicht leuchten über unserer Nacht, er lasse uns nicht aus seiner Hand gleiten, er begleite uns auf unseren Wegen.

Abendsegen | Freitag, 21. Oktober 2022

Es ist wieder Freitagabend geworden, für die jüdische Gemeinde und ihre Familien Schabbat-Abend. Nach dem Gottesdienst wird darauf geachtet, dass niemand allein nach Hause geht, jeder ein ausreichendes Mahl hat. Dazu gehört eine Geschichte, die ein jüdisches wie christliches Problem berührt:
Dem Rabbiner wird mitgeteilt, dass ein Mann in seiner Gemeinde gestorben ist. „Was hat ihm gefehlt?“, fragt der Rabbi. „Er ist verhungert“, wird ihm gesagt. „Kein Jude kann Hunger sterben! Wäre er zu mir gekommen, so hätte ich ihn unterstützen lassen!“ „Rabbi, er hat sich geschämt!“
„Also ist er an seinem Stolz gestorben und nicht am Hunger! Am Hunger stirbt kein Jude!“
Wir kennen den Ausspruch: Sein Stolz lässt es nicht zu, dass er sich Hilfe holt. Im richtigen Moment Stolz zu zeigen, kann uns stark machen. Im falschen Moment kann er uns zerstören. Nie sollte er uns hindern, Hilfe zu holen, wenn wir sie brauchen! Wie beim Rabbi muss es heißen: „An Hunger stirbt kein Christ!“ Man muss den Menschen die Chance geben, großzügig zu sein. Es tut auch ihnen gut.

Möge Gott uns in dieser Nacht segnen und bewahren, stärkend und mutmachend, und uns aufstehen lassen in ein erfülltes Leben.

Abendsegen | Donnerstag, 20. Oktober 2022

Die meisten von uns haben wohl immer einen Schlüssel bei sich, Haus- oder Wohnungsschlüssel, Autoschlüssel, oder gar einen ganzen Schlüsselbund. Wie viel Zeit haben wir schon verloren auf der Suche nach unseren Schlüsseln, wie hilflos, ohnmächtig waren wir, wenn wir sie verlegt oder verloren hatten. Im übertragenen Sinne stehen wir oft verschlossenen Menschen gegenüber – welche Schlüssel brauchen wir dann? Wir ahnen, dass die Schlüssel des Geldes so manche Tür öffnen. Blumen sind übrigens kein schlechter Schlüssel, Blumen zeigen immer Aufmerksamkeit. Wann habe ich denn zum letzten Mal Blumen den Eltern, der Schwiegermutter mitgebracht…?
Wie schön, einem aufgeschlossenen Menschen zu begegnen! Und oft bitten wir andere, sich dieser Begegnung oder jener Erfahrung nicht zu verschließen!
Ja, was auch wichtig ist: Grobe Hände ohne Fingerspitzengefühl können kleine Schlüssel nicht gut fassen! Der Zündschlüssel ist so klein und was er an Energie in Gang setzt!
Ob ich selber für andere Menschen zu einer Schlüsselfigur werden kann? Ich ahne schon, für wen…
Ich muss das mal aufschlüsseln!

Abendsegen | Mittwoch,  19. Oktober 2022

Bevor ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, musste ich noch einmal zum Kardiologen. Er sollte ein EKG erstellen und mein Herz mit dem Ultraschall untersuchen. Er wurde mir von verschiedenen Pflegeschwestern mit einem liebevollen Lächeln empfohlen, er sei ein älterer „Doktor aus Indien“. Ich war sehr gespannt, als er sich neben mich setzte und mit seiner Hand mein Handgelenk sehr kräftig umfasste, um den Puls zu fühlen. Zuerst war leicht enttäuscht – was sollte das mit dem Puls zählen, wo doch das EKG gleich drankäme. Dann schämte ich mich: Durch die feste Berührung und die nahe Zuwendung und das aufmerksame Zählen waren wir uns ja auf eine wunderbare Weise viel näher näher gekommen als durch hundert Blicke auf die Computerbilder.
Ich habe gar nicht mehr gefragt, was dabei herausgekommen ist, weil die feste, nahe und dichte Berührung mich mehr beruhigte als alle Ergebnisse. Der „Doktor aus Indien“, hatten die Schwestern gesagt – und ich hatte verstanden, was ein Kontakt ist…

Guter Gott, schenke uns einen beruhigenden Schlaf und morgen berühre uns mit deiner Kraft.

Abendsegen | Dienstag, 18. Oktober 2022

Es kommen die Tage, an denen wir morgens oder abends vor das Haus treten, die Luft einatmen, zum Himmel schauen und sagen: Es wird Herbst…Ein anderer Wind kommt auf nach diesem heißen Sommer. Bertolt Brecht schreibt: „Ich sah ein großes Herbstblatt, das der Wind die Straße lang trieb, und ich dachte: Schwierig den künftigen Weg des Blattes auszurechnen…“
Das kann uns beim Einschlafen durch den Kopf gehen: den künftigen Weg des Blattes auszurechnen, das künftige Weitergehen unseres Lebens, unserer Arbeit, der Menschen, groß und klein mit uns…
Ich habe einmal in Israel von Beduinen gehört, die Wüste sei schön, weil sie irgendwo eine Quelle beherberge – wo, weiß niemand; nur, wenn es still ist, kann man sie hören. Seltsam, dass sich die Quellen des Lebens oft verstecken. Wie schön wäre es, ohne Angst dem Herbst und dem Winter zu begegnen wie einer im Halbdunkel versteckten Quelle. Doch gleichen unsere Gedanken mehr den Drachen, die in der Herbstluft von den Winden hin- und her gerissen werden, in die Höhe jagen und in Schwingen sinken, mag sein, in den Schlaf.

Wir bitten um deinen Segen, Gott. Lass uns alles zum Segen werden, den Mond über uns, die Erde unter uns, den Herbst vor uns, das Band der Gemeinschaft zwischen uns und die Ruhe der Nacht!

Abendsegen | Montag, 17. Oktober 2022

Der erste Tag der Arbeitswoche kommt an sein Ende. Wir sind Menschen begegnet, den leuten im Haus, haben endlich mal wieder mit der Freundin telefoniert und herumgehört, wie es hier und da mit Corona steht und dem Leben so allgemein. Es könnte sein, dass auch wir zu dem Schluss kommen, den die Dichterin Marie-Luise Kaschnitz zieht in ihrem Gedicht „Ziemlich viel Mut“.
Sie schreibt:
„Ich finde doch, dass ziemlich viel Mut in der Welt ist…wenn man bedenkt, dass es gar niemand gibt, der nicht seine Sorgen hätte, zumindest diese: Kind, was wird dir geschehen?
Und wir wissen doch alle, wie sehr misstrauen dem Dach über unserem Kopf und der Erde unter unseren Füßen…Und doch habe ich heut gesehen, wie einer die Buche pflanzte, den dürren Stecken…Den ganzen Tag habe ich Lastwagen fahren sehen voll Bretter und Schwellen, voll Balken und roter Ziegel. Ich sah mein eigenes Gesicht im Spiegel, als ich fortging, dir zu begegnen. Wie war es voll Freude.“

Unser Vater, segne unseren Schlaf mit der Gewissheit, dass auch morgen uns der Mut für einen neuen Tag stärkt und anfangen lässt.
Quelle: Marie-Luise Kaschnitz, Ziemlich viel Mut in der Welt, Gedichte und Geschichten,, Insel Verlag, Frankfurt a. Main 2002, 158