Nicht zu glauben! – Küssen oder kämpfen?

Zuweilen wird in dieser Spalte gegrummelt und geseufzt, zuweilen werden Entdeckungen gemacht und eingeübte Sichtweisen neu justiert – gelacht wird selten. Heute soll es zumindest um ein Lächeln gehen…Da heißt es im Psalm 85,11 „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“. Paul Gerhardt singt in „Herr, du vormals hast dein Land…“ (EG 283): „Die Güt und Treu werden schön einander grüßen müssen; Gerechtigkeit wird einhergehn, und Friede wird sie küssen“. Im verwehten Programm der Ökumenischen Bewegung „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ war das anschauliche Bild ein biblischer Beleg, in ihm kam zusammen, was nie zusammen gehen wollte.

Sensible Hörer des Psalters haben darauf hingewiesen, dass die hebräische Grammatik auch eine andere Lesart nahe legt: „Gerechtigkeit und Frieden kämpfen“. Also gibt es zwei Verstehensmöglichkeiten, die sich ausschließen? Küssen sie sich oder bekämpfen sie sich? Verwandte Bibelstellen helfen kaum: Aaron trifft auf Mose und sie küssen sich (2. Mose 4,24), da triftt einer auf eine Bärin (Sprüche 17,12) und es wird eine unangenehme Begegnung. Wenn sich Frieden und Gerechtigkeit begegnen, wird es Rivalität oder Vereinigung, Kuss oder Kampf? Liest man im Vers „küssen“, ist die Utopie am Ziel, liest man „kämpfen“, fangen die Konflikte erst an. Die Frage, was richtig ist,  ist zu platt; die Alternativen müssen offen gehalten werden, sie bewahren die größere Genauigkeit, denn das Tätigkeitswort meint ein „aufeinander treffen“, das kann positiv-freundlich und negativ – aggressiv sein. Wenn Elisabeth, die den Johannes in sich trägt, der die Gerechtigkeit verkörpert, auf Maria trifft, die den Jesus in sich trägt, der den Frieden verkörpert, küssen sie sich, sagt Kirchenvater Theodoret. Wenn in einem mittelalterlichen Streit die Töchter Gottes „gerechtikait“ und „frid“ aufeinander treffen und sich streiten, versöhnen sie sich nicht.

Ach, was nun: Kuss oder Kampf? Ich plädiere (mit Jürgen Ebach) dafür, dass Frieden und Gerechtigkeit überhaupt zusammen kommen! Zuweilen mehr im Konflikt, zuweilen in freundlichen Formen! Sie bedürfen einander! Gemeinsam kämpfen sie gegen den faulen Frieden und die lieblose Gerechtigkeit! In der Bibel befragen sich in einem Vers zwei Lesarten. Nicht zu glauben! Übersetzen: Eine unerschöpfliche Aufgabe!