Abendsegen | Freitag, 27. Mai 2016

Es ist Freitagabend und für die jüdische Gemeinde hat der Schabbat begonnen. Der Londoner Rabbiner Lionel Blue erzählt vom Segen, den er in seiner Kindheit von den Großeltern empfangen hat.
„Als Kind empfing ich jeden Morgen zwei Segen, zu Hause und in der Schule. Der morgendliche Segen bedeutete mir viel: Mein Großvater drückte mich an sein Zwerchfell und betete in tröstlichen Worten: ‚Breite Deinen Tempel des Friedens über ihn aus…Engel und Erzengel seien zu seiner Rechten und zu seiner Linken.‘ Und aus der Küche bekräftigte meine Großmutter mit einem seufzenden ‚Amen, Amen‘.
In der Schule war der Segen anderer Art. Wenn ich mich gut betragen hatte, würde mich eine sittenstrenge Gottheit aus fernen Himmeln segnen…
Doch muss ich immer an Opa und Oma denken und ihre rührenden Segenssprüche, die mir viel lieber gewesen sind.“

Gott segne uns und behüte uns, er berge uns im Mantel seines Trostes und umarme uns in unserer Not.

Lionel Blue, Das Blaue vom Himmel, Herder Freiburg,1989

Abendsegen | Donnerstag, 26. Mai 2016

Die Woche neigt sich ihrem Ende zu…Was geschah? Ich habe zugehört, ich habe gesprochen, habe übersehen, aber auch hingeschaut, habe entschieden und geurteilt, habe auch weggeschaut, habe anerkannt, war müde und voller Fragen, leer und enttäuscht…Atem des Lebens, wo bist du? Meine Gedanken, meine Verletzungen, meine Erwartungen, was ich getan und was ich gelassen habe – Du Gott, Atem meines Lebens, wie wird es weitergehen?
Die Menschen, die durch mich beschenkt oder verletzt wurden, dir vertraue ich sie an. Wie kann ich Zerbrochenes heilen, entstandene Gräben überwinden? Auf dich, Gott, Atem meines Lebens, setze ich meine Hoffnung. Atem meines Lebens, weiter als mein Denken, stärker als mein Fühlen, du wirst mich neu beleben!

Bleibe bei uns, Gott, denn es will Nacht werden und der Tag hat sich geneigt; öffne uns am neuen Morgen die Augen für die Menschen um uns; schenke uns ein Wiedersehen ohne Gram und Groll für das, was war und das, was kommt.

Abendsegen | Mittwoch, 25. Mai 2016

Bei einer Führung durch das bald 1000 Jahre alte Kloster Engelberg macht uns ein Mönch auf einen Tisch aufmerksam, der wie verloren in einem leeren Zimmer in der Ecke steht. Ein handwerklich begabter Mitbruder habe einen alten Küchentisch restauriert und nebenbei mit ein paar Einlegearbeiten versehen. Nun sei der Tisch so schön geworden, dass er einfach nicht mehr zu gebrauchen sei. Seither steht er zum Bestaunen da, abgedeckt mit Glasplatte, in der Ecke.
Eine katholische Kollegin sagte spontan: „Wie bei Maria! Da steht sie auf den Bildern, beladen mit kostbaren Dingen, die sie nie in Händen gehabt hat, in adliger Gestalt, die sie nie gewesen ist; steht blass in all den Ecken der Verehrung. Und wir hätten die Maria der schmutzigen Töpfe, die ihrem Sohn auch mal Linsen gekocht und den Schlafplatz am Lehmboden gewischt hat, als Freundin und Schwester so nötig in unserer Nähe..“.

Der Maria gleich schenke Gott auch uns Frieden; Wohlergehen dem Leib, Heil der Seele, Ruhe dem Geist und der Welt eine Ahnung vom Frieden.

Abendsegen | Dienstag, 24. Mai 2016

Ausweglos, aussichtslos, hoffnungslos – diese Worte lösen bei uns ein Gefühl der Ohnmacht aus, dem Gang der Dinge ausgeliefert zu sein. Dagegen erzählt der Filmemacher Alexander Kluge eine kluge, ja trotzige Geschichte:
Ein Kammersänger wird im Interview gefragt, wie er denn im 1. Akt mit einem Funken Hoffnung singen könne, wo er doch wisse, dass die Oper im 5. Akt schlecht ausgeht. Er antwortet: „Das weiß ich im 1. Akt noch nicht.“ Die Interviewerin erinnert ihn daran, dass er das Stück zum 42. Male spiele und daher wissen müsse, wie es ausgeht und fragt noch mal: „Wieso spielen Sie mit diesem Funken Hoffnung im Gesicht? Es ist doch in 42 Aufführungen nicht gut ausgegangen!“ Da sagt er: „Könnte aber doch!“

Gott begleite die Wandlungen unseres Lebens, die Gabe seines Geistes stärke uns am Abend und am Morgen und allezeit!

Alexander Kluge, Die Macht der Gefühle, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1984, 77-79
(gekürzt)

Abendsegen | Montag, 23. Mai 2016

Wenn es Menschenwitz gibt, dann gibt es auch Gotteswitz. Wo fragen wir da am besten nach? Natürlich im Judentum, dort sind die geistvollsten Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Gott zu finden. Ein Beispiel:
Eine Gruppe führender jüdischer Wissenschaftler kommt zu dem Schluss, dass Gott heute eigentlich nicht mehr gebraucht wird. Sie diskutieren, wer zu ihm gehen soll, um es ihm schonend beizubringen. Ein Biochemiker wird schließlich ausgewählt.
„Wir brauchen dich nicht mehr“, sagt er zu ihm, „wir können uns jetzt selbst Menschen klonen.“ „Okay“, sagt Gott, „das muss ich natürlich respektieren. Aber lass uns, bevor du gehst, noch einen kleinen Wettbewerb im Menschenschaffen abhalten, einverstanden?“ Der Biochemiker nickt. „Einverstanden“, sagt er, „kein Problem“. Er bückt sich und hebt eine Handvoll Erde auf, um daraus einen Menschen zu formen. „Nein, nein“, sagt Gott, „so nicht. Jeder nimmt seine eigene Erde!“

Im Vertrauen auf Gott, den Schöpfer unserer schönen Erde, können Sie ihm den Tag überlassen und in Frieden schlafen gehen. Seine schützende Hand schenke Ihnen einen stärkenden Schlaf!

Abendsegen | Freitag, 07.08.2015.

Nun hat für die jüdische Gemeinde der Schabbat begonnen. Schabbat – das heißt: Nicht allein das Tun, sondern das Lassen ist von Bedeutung: Den Computer herunterfahren, das Förderband anhalten, den Hebel umlegen und den Schalter zumachen, die Kasse abschließen, den Hörsaal, verlassen, die Akte und die Motorhaube schließen, weg mit der Erde an den Fingern, runter vom Gerüst, den Patienten alles Gute wünschen und die Praxis schließen, Handy endlich ausschalten, Stifte zuschrauben, Fernsehstecker rausziehen und – den Rücken strecken, die Beine hochlagern, die Augen schließen, die Stille kosten…Ein Auge voll Grün, eine Nase voll Gras, ein Ohr voll Drossel, eine Seele voll August! Für einmal nicht nordisch walken, sondern südlich schlendern, nicht chatten und chillen, sondern reden und ruhen, ohne Bike, nur mit Rad– ach, hoffentlich eine kluge Predigt am Sonntag, mal ernten, ohne zu säen, eine Ahnung Ewigkeit, ein Lungenzug Frieden, Atem vom großen Atem der Schöpfung…

Für deinen Segen, der uns birgt und freundlich umgibt, sei dir, Gott, Dank!

Abendsegen | Donnerstag, 05.08.2015

Großeltern brauchen nicht clever zu sein, aber wenn sie gefragt werden: „Warum ist der liebe Gott nicht verheiratet?“ oder warum Hunde keine Katzen leiden, dann müssen sie das beantworten können. Gänzlich ohne Antwort und Ausweg war eine jüdische Großmutter, deren Enkel Süßes naschte von morgens bis abends. Sie ging zum Rabbiner und klagte: „Rabbi, der Enkelsohn hört nicht auf, Süßes zu naschen! Was tun?“ Der Rabbi dachte nach und sagte: „Komm in einer Woche wieder!“ Sie kam wieder: „Er nascht weiter. Was kann ich tun?“ Der Rabbi sagte: „Komm in einer Woche wieder!“ Nach einer Woche strahlte das Gesicht des Lehrers, er sagte: „Sag deinem Enkel, er soll das Naschen lassen!“

Verärgert sagte die Frau: „Danke! Und dazu hast du drei Wochen gebraucht?“ Der Rabbi antwortete: „Das war nicht so einfach – drei Wochen habe ich gebraucht, um mir das Naschen selbst abzugewöhnen.“

Gott, der uns geschaffen hast mit Schwächen und Stärken, Esslust, Eislust. Naschlust und Disziplin, segne die Ruhe der Nacht. Lass uns erwachen mit großer Kraft gegen manche Versuchung.

Abendsegen | Mittwoch, 05.08.2015

Was sage ich einem Menschen, der am Ende ist? Was sage ich unter vier Augen in seine Sorgen? Am Grab der Liebe in seine Einsamkeit? Am Krankenbett in seine Schmerzen? Sage ich: Kann man nichts machen! Erwischt jeden mal? Nur nicht den Mut verlieren! Nimm’s nicht so schwer! Sage ich nichts als das?

Ich sollte doch kennen den einen und einzigen Namen, der uns gegeben ist unter dem

Himmel. Ich kenne ihn auch – und doch – wie schwer ihn auszusprechen, ihn zu bitten, ihn zu rufen! Vor Gott zu sprechen über das, was nicht zu verstehen ist.

Da gibt’s ein ganzes Fach im Bücherschrank über den Tod und die allerletzten Dinge – nein, ich bin meiner Sache nicht sicher, was das Ende betrifft. Lass mich glauben, mein Gott, dass ganz am Ende nicht der Schmerz steht, sondern du. Dass wir den Tag loben lernen vor dem Abend, weil du gesagt hast: Ich lebe, und auch ihr sollt leben!

Unser Vater, dein tröstender Segen, sei mit allen Kranken, Verletzten und Trauernde dass ihr Leid sich beruhigt und das Dunkel wieder hell wird.

Abendsegen | Dienstag, 04.08.2015

In einer der üblichen Konferenzen, die irgendeine bedeutsame Einrichtung aus welchen Gründen auch immer für wichtig hielt und wo sich – alles in allem- nicht einmal gar nichts bewegte, kroch mir ein Marienkäfer über den Ärmel, wagte sich hinab auf den Tisch und entschloss sich, dort die riesige Fläche eines Papiers zu überqueren – es war die Tagesordnung…

Da lief das schwarz und rot gepunktete Marienkäferchen über sämtliche Punkte der Tagesordnung, ohne ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Beneidenswert unverfroren. Schon immer mein liebster Käfer, dachte ich, und sagte zu ihm, es ist so schön, dass du lebst. Und das hat er gehört: Wie zur Probe faltete er die Flügel aus und flog ein wenig weiter…

Es war eine ganz übliche Sitzung? Nein, das winzige Wunder des Lebens an einem ganz gewöhnlichen Tag. Morgen wird ein ganz gewöhnlicher Mittwoch kommen – und er wird voller Lebenszeichen sein!

Gottes Segen gewähre Ihnen eine ruhige Nacht und schenke Ihrem aufmerksamen Herzen sommerliche Lebenszeichen

Abendsegen | Montag, 03.08.2015

Der Lift ist nicht da, das bedeutet, dass ich zu Fuß vom 5.Stock ins Erdgeschoss muss. Das Haus ist mucksmäuschenstill. Als ich an der Wohnung im 3. Stock vorbeikomme, höre ich hinter mir die Tür aufgehen, eine Kinderstimme sagt leise, aber erwartungsvoll „Hallo“. Da steht Anton, mit einem langen Schuhlöffel in der Hand. „Hallo, Anton“, sage ich, „gehts dir gut? Spielst du mit Omis Schuhlöffel?“ „Nein“, sagt der Vierjährige, „ich kämpfe, ich habe ein Gewehr!“ und klemmt sich den Schuhlöffel waagrecht untern Arm, versucht, ein Auge leicht, aber vergeblich zuzudrücken und mich mit dem anderen ins Visier zu nehmen. „Aha, alles klar.“

Nun, Kinder werden älter und gescheiter und lernen, dass ein Schuhlöffel nicht untern Arm gehört, Weinen nicht peinlich und Anton nicht der kleine Junge, sondern ein großes Wunder ist. Aber mitunter, in schwachen Momenten, erleiden manche doch wieder einen Rückfall. Behüte uns Gott, dass nicht der ganzen Welt das passiert.

Der Segen Gottes erfülle und beschütze sie, ihre Kinder und ihre Eltern, in dieser Nacht. Er lasse sein Angesicht leuchten über Ihnen in Schmerz und Freude.