Gewalt und Gerechtigkeit

Lernschritte zum biblischen Gottesbild

„Nicht alle Gewalt auf dieser Erde hat religiöse Gründe, aber noch zuviel an Gewalt geschieht im Namen einer Religion. Tag für Tag kommen Nachrichten ins Haus: Terror im Namen des Islam, Bomben zwischen Katholiken und Protestanten, Massaker zwischen Hindus und Buddhisten, Völkermord in Afrika, Krieg zwischen Katholiken, Orthodoxen und Muslimen, Verletzung der sozialen Gerechtigkeit in Lateinamerikas. Das Erschrecken ist meist groß. Sind Religionen immer noch fähig, Menschen zu Gewalt zu inspirieren, Gewalt und Tod zu legitimieren?“

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Die unerschrockene Greisin

Begegnung mit Julie Bonhoeffer

„Die Kette der Generationen darf nicht reißen“, dieses Lebensgesetz kommt jedem in den Sinn, der die Familiengeschichte Dietrich Bonhoeffers liest. Lebenslauf und Lebenswerk, unauflösbar verflochten, verdanken sich wie bei kaum einem anderen Theologen der Neuzeit einer Familiengeschichte voll scharf konturierter Profile über Generationen hinweg. Die Familie prägte so unverkennbar, dass jegliches Mitläufertum im deutschnationalen Rausch, geschweige denn irgendeine Form von aktiver Zuneigung zum Nazismus ungleich unvorstellbarer gewesen wäre als die Bereitschaft zum entschiedenen Widerstand.
Was ließ Bonhoeffer schon zu Beginn des Nationalsozialismus so immun bleiben gegenüber den national erhebenden Gefühlen, die vielen zu Kopf stiegen, von denen man es nie und nimmer erwartet hätte, denken wir an zwei Extreme wie Martin Niemöller und Martin Heidegger? Wovon kaum einer aus den Bildungseliten – Militär, Adel und Kirche – frei war, dem christlichen Antijudaismus, ob gutmütig oder grobianisch, in der Familie Bonhoeffer gab es ihn nicht. Eine einmalige Immunität gegenüber Rassismus, vordemokratischen Überheblichkeiten und politischer Engstirnigkeit zeichnete die Familiengeschichte aus.
Der Mensch, der Dietrich Bonhoeffer aus der älteren Generation am längsten begleitet hat, an dessen Leben er lernen konnte, was eine „Großmutter Courage“ ist und an dessen Grab er bewegende Worte der eigenen Lebensverpflichtung fand, das war seine Großmutter väterlicherseits, Julie Bonhoeffer, geborene Tafel. Wer war diese Frau, von der so viele die historische Szene berichten, wie sie am 1. April 1933, am Tage der deutschlandweiten Judenboykotte im Berliner „Kaufhaus des Westens“ einkaufen ging?

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„Auge um Auge, Zahn um Zahn…“?

Das Vorurteil
An dem Vorwurf gegen die Juden, ihre Tora würde das Talionsprinzip „Auge um Auge…“ als wörtlich zu nehmende Aufforderung zur Vergeltung gebieten, hat sich langem die antijüdische Einstellung von Christen besonders festgemacht – ein verhängnisvoller Verstehensfehler. Die Formel hat sich längst vom Bibeltext gelöst und ist umgangssprachlich zum festen Begriff für Rache, Zurückschlagen und Gewalteskalation geworden. Die Medien verwenden ihn automatisch bei Vergeltungsfällen – häufig mit Anklängen an „alttestamentarisch“ und andere mit dem Judentum verbundene Assoziationen. Wenn sprachliche und damit tief im Unterbewusstsein gegründete Judenfeindschaft noch besteht, so ist sie hier und bei anderen Begriffen wie „pharisäerhaft“, „Gott der Rache“, „Judas“, „gesetzlich“, „auserwählt“ zu finden. Dumpfer Antisemitismus mag geschwunden sein, alte Vorurteile halten sich hartnäckig.

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Das Wort RBB 88,8 30. Oktober 2005

Wir rechnen damit, dass der Mensch durch das Vertrauen auf Jesus, den Messias, gerecht gemacht wird, ohne ein Gesetz, das Werke verlangt.
Brief an die Römer, 3, 28

Heute und morgen wird in den Gottesdiensten der evangelischen Kirchen Deutschlands der Reformation gedacht, also der Wiederentdeckung des Evangeliums, ohne das nach dem Urteil Martin Luthers die Welt voller Tod und Finsternis wäre. Das Evangelium bringt Licht in eine vom Tod überdeutlich gezeichnete Welt. Und das ist ein lebendig machendes Licht, ein erhellendes Licht, ein wärmendes Licht. Zu diesem Licht gehört die Wiederentdeckung von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein.

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99 Schafe suchen

oder
Erinnerungen an die Zukunft der Kirche

Mein Freund, der Architekt, sprang vom runden Tisch auf, eilte zum Reißbrett, zog Linien, trat zurück, prüfte, wog ab, wiegte den Kopf, setzte neu an, verbesserte, maß den Grundriss mit raschem Blick, wechselte das weiße leere Blatt, entwarf eine zweite Skizze, trat zur Seite, setzte wieder an – hier einfallendes Tageslicht, hier ahnungsvolles Dunkel, dort helle Lichtbahnen und ein Flugdach – spielte mit dem Zeichengerät, lachte und fragte: „Habe ich mich vermessen?“

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„Wer hilft uns zum Glück?“

Tage in Taizé

Tage in Taizé – das waren Tage in Burgund, Tage inmitten der Wunderwerke burgundischer Kirchenkunst, Tage in der Nachbarschaft von Cluny, von deren Kathedrale der Erzbischof von Le Mans sagte „Gefiele es dem Himmel, dürfte man den Bau die Wandelhalle der Engel nennen“, Tage der Erinnerung an den „Aufschwung 1000“, denn von hier her erneuerte sich das christliche Europa um das Jahr 1000 im Aufbruch der Mönchsorden gegen die Verschwisterung von Messe und Macht.

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Zum Schulbeginn, Sonnabend, 13. August 2005

Wort zum Tage – Worte auf den Weg / RBB 8. August – 13. August 2005

Ein Leitwort der kommenden Wochen des Wahlkampfes wird heißen: Gerechtigkeit! Zu Recht: die Menschen wollen wissen, was die Gerechtigkeit kostet, welche Gestalt Barmherzigkeit oder Solidarität annehmen müssen, damit wir eine menschliche Gesellschaft bleiben. Es mag wahr sein, was ein kluger Beobachter zum möglichen Scheitern der Regierung sagte: Sie verfüge über eine „dedizierte Unmusikalität in Sinnfragen“. Gerechtigkeit – es gibt die soziale, die politische, die ökonomische Gerechtigkeit, sie haben alle mit dem Sinn realen Lebens zu tun. Und doch fehlt etwas, was im folgenden Wort der Bibel aufstrahlt: „Ein Gerechter ist wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht am Morgen ohne Wolken, wenn vom Glanz nach dem Regen das Gras aus der Erde wächst“.

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Zum Schulbeginn, Freitag, 12. August 2005

Wort zum Tage – Worte auf den Weg / RBB 8. August – 13. August 2005

„We are all humans“, „Wir sind alle Menschen“, so weinte die Frau, am Boden kauernd. Vor wem sie diese Worte hervorstieß, zeigte die Kamera in den Fernsehnachrichten nicht. War sie Kurdin oder Schiitin, ich weiß es nicht mehr, es spielt auch keine Rolle, denn wir sind alle „humans“
Wir sind alle Menschen. Wirklich? Oder sind die einen es mehr und die anderen weniger? Wo tut es sehr weh, wenn von Toten und Verletzten die Rede ist? Wo tut es ein bisschen weniger weh? Bei getöteten Kindern weitaus mehr als bei erschossenen Soldaten? Bei fünfzig Ermordeten in London mehr als bei Hundert in einer irakischen Stadt?

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Zum Schulbeginn, Donnerstag 11. August 2005

Wort zum Tage – Worte auf den Weg / RBB 8. August – 13. August 2005

„…wenn dein Kind dich morgen fragt“, hieß das Thema des Kirchentages in Hannover. Die erstaunlichste Entdeckung war das Wort aus dem 8. Psalm: „ Aus dem Munde von Kindern und Säuglingen hast du eine Macht gegründet gegen alle, die dich bedrängen, auf dass du Feindschaft und Rache aufhören lässt.“ Haben denn Kinder und Säuglinge Macht? Schon die alten Übersetzer haben das nicht mehr verstanden und den Text geändert. Vom Lob Gottes im Mund von Kindern ist nun die Rede, das ist auch ein schöner Gedanke. Aber bleiben wir beim biblischen Text und fragen noch einmal: Haben Kinder und Säuglinge Macht? Hätten nicht Männer, sondern Frauen den hebräischen Psalm übersetzt und ihr Säugling hätte geschrieen oder gewimmert, sie hätten sich unterbrechen lassen. Diese Unterbrechung wäre schon die Antwort gewesen! Der unbedingte Anspruch eines Kleinkindes, das nicht aufzuschiebende Schreien eines Säuglings – das ist Macht! Junge Eltern wissen das: Die Laute der Kleinen, die ohne Schutz und Fürsorge nicht weiterleben können, ihr Schreien ist Teil der höchsten Macht. Nicht nur das: Gott hat mit den Kinderstimmen eine Festung für sich geschaffen, um selbst Schutz zu erfahren. Das ist wunderbar: Wieder erkennen wir das Herz der Bibel: den Widerspruch zu all der niederwalzenden Gewalt, die die Menschen anbeten: Gott verbindet sich mit dem Schwachen, um bei uns zu leben.

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Zum Schulbeginn, Mittwoch 10. August 2005

Wort zum Tage – Worte auf den Weg / RBB 8. August – 13. August 2005

Vor 2 Jahren starb Dorothee Sölle, eine schriftgelehrte Predigerin mit der unnachgiebigen Leidenschaft einer biblischen Prophetin. Ihr Blick galt den übersehenen Menschen in der weiten Ökumene, sie nahm aber auch die Besuche ihrer Enkeltochter wahr. Dorothee Sölle erzählt: „Dieses kleine Mädchen, dreieinhalb Jahre alt, holte alle meine Tassen aus dem Schrank und baute sich – unter meinen besorgten Augen – ein Cafe auf. Es schenkte imaginären Kaffee an imaginäre Gäste aus. Nach einer Weile sagte ihre Mutter: ‚Jetzt musst du aufräumen, wir wollen zu Abend essen’. Das Kind antwortete – nicht aggressiv, eher nachdenklich – mit dem Satz: ‚Mama, du, du denkst immer nur in echt’. Ein wunderbarer Satz!“, fährt Dorothee Sölle fort, „mir fiel dazu ein, dass ich seit etwa fünfzig Jahren wenig ‚in echt’ gedacht habe, sondern vielleicht in Träumen und Hoffen, dass es außer ‚ in echt’ noch etwas anderes geben muss. Bedeutet Erwachsenwerden denn immer nur dümmer, immer blinder, immer weniger achtsam zu werden?

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